Heinichen, Veit - Proteo Laurenti 01 - Gib jedem seinen eigenen Tod
man so etwas vergessen?« fragte Laurenti, der selbst nie wußte, wo er seinen Wagen geparkt hatte.
»Kann ja mal passieren.« Marco schaute angestrengt in seine Kaffeetasse.
»Und wo warst du vorher?«
»Auf einer Party.« Marco schaute seinem Vater nicht in die Augen.
»Wo?«
»Bei Sandra zu Hause«, sagte Marco.
»Was für eine Sandra? Ist sie nett?« Laurenti hörte den Namen zum ersten Mal.
»Nicht, was du denkst, Papa!« Marcos Ohren hatten sich dunkel verfärbt.
»Also sag schon, wie man vergessen kann, wo man die Kiste gelassen hat?«
»Da kenne ich noch andere«, Laura lächelte spöttisch. Er hatte begriffen, daß er das Thema wechseln mußte, damit sie ihn nicht mit unzähligen Anekdoten auf den Arm nehmen würde. Am liebsten erzählte sie die Geschichte, wie er an einem Morgen auf der Suche nach seinem Wagen in Gedanken versunken dreimal an ihm vorbeigegangen war, weil er zuletzt sogar vergessen hatte, daß er ihn suchte.
»Warst du betrunken?« Laurenti griff mit seiner Linken über den Tisch und fasste seinen Sohn am Kinn, damit dieser den Blick hob.
»Nur ein bißchen.« Marco errötete.
»Also deshalb. Ein bißchen betrunken? Wer es glaubt! Gott sei Dank hast du die Vespa wenigstens nicht gefunden. Hast du die Versicherung bezahlt?«
»Ich fahr gleich nachher zur Post und bezahle.« Marco schüttelte die Hand seines Vaters ab.
Laurenti fuhr auf. »Du gehst zur Post, du fährst nicht! Und du benutzt die Vespa erst ab Dienstag wieder. Vorher wird das Geld kaum bei der Versicherung eingetroffen sein, und du bist nicht geschützt.«
»Dein Vater hat recht«, mischte sich Laura ein. »Stell dir vor, wenn man dich erwischt hätte oder wenn etwas passiert wäre! Du gibst mir jetzt die Schlüssel und bekommst sie wieder, wenn wir am Dienstag mit der Versicherung gesprochen haben. Klar?!«
Marco wußte, daß Widerstand sinnlos war, wenn seine Mutter sich einmal auf die Seite seines Vaters geschlagen hatte. Es gab keinen Verhandlungsspielraum mehr. Jedenfalls jetzt nicht.
»Man muß immer auf dich aufpassen«, sagte sein Vater. »Alle mögen dich. Du bist ein netter Junge, aber du bist restlos verwöhnt. Ein Junge mit zwei großen Schwestern! Man könnte meinen, wir hätten dich nach dem Pinguin getauft, dem Pinguin Marco, der in den siebziger Jahren von seinem Pfleger jeden Nachmittag zu einem Spaziergang vom Aquario über die Piazza Unità geführt wurde. Er war der Liebling von allen und genoß sichtlich seine Prominenz. Nur loslassen durfte ihn sein Pfleger nie, sonst passierten tausend …«
»Ist gut, Papà«, unterbrach ihn Marco und hob die Hand. »Diese Geschichte kenn ich mittlerweile in- und auswendig. Die ist absolut uncool.«
»Gute Geschichten nutzen sich nicht ab, nicht wahr, Laura? Sie sind höchstens unangenehm, wenn sie …«
»Ach ja, Papà, da fällt mir auch eine ein.« Marcos Augen blitzten frech. »Du heißt doch Proteo Laurenti, wenn ich nicht irre, Papà? Nicht wahr? Ist doch so? Fast genauso wie die kleinen weißen Tierchen: Proteus Anguinus Laurenti. Oder?«
Laurenti nickte gequält. Es war lange her, daß sie ihn das letzte Mal damit aufgezogen hatten. »Ja und?«
»Also da habe ich eine super Geschichte gehört, die man in Slowenien in langen kalten Winternächten den kleinen Kindern erzählt.«
»Marco, es ist Sommer und ich glaube nicht, daß ich das hören will«, unterbrach ihn sein Vater.
Doch es war bereits zu spät. Laura grinste vor Schadenfreude.
»Los, Marco, erzähl schon!« sagte sie und schenkte sich Kaffee nach.
»Okay, da lebte also mal ein schlangenartiges, weißes und blindes Wassertierchen in einem unterirdischen Fluß in der Nähe einer Quelle. Das war natürlich im Karst. Die Bewohner des nahe gelegenen Dorfes mieden es, aber ein kleiner Junge hatte keine Angst und wurde sein bester Freund. Sie spielten und schwammen zusammen in der tiefen, dunklen Grotte.
Nach vielen, vielen Jahren kam eine Räuberbande ins Dorf und drohte, es mit Feuer und Schwert zu vernichten. Der Junge, inzwischen längst erwachsen, rannte also instinktiv zu der Höhle und kam zurück mit einem Feuer speienden, schnaubenden Drachen mit glühenden Augen, der die Bösewichte vertrieb.
Das kleine weiße Tierchen war nämlich in der Zwischenzeit ein Drache geworden. Aber es hatte den kleinen Jungen von früher nicht vergessen. Und von da an wurde das Ungetüm von den Bewohnern verehrt, und kein Bandit traute sich mehr, sich dem Dorf in böser Absicht zu
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