Heinichen, Veit - Proteo Laurenti 01 - Gib jedem seinen eigenen Tod
ab.
»Ich kenne ihn«, sagte er nochmals. »Wir hatten vor kurzem mit ihm zu tun. Er wurde als Zeuge des Zwischenfalls bei der LKW-Verladung in Ausonia vernommen. Ich weiß nicht mehr, wie er heißt, ein Russe, glaube ich. Namen und Adresse finden wir im Büro. Wann bekomme ich den Bericht?« Er hatte sich an den Beamten der Spurensicherung gewandt.
»Montag mittag«, antwortete dieser unschuldig.
»Wann? Warum nicht heute Abend?«
Der Beamte antwortete nicht. Er hatte schon öfters Laurents Ungeduld erlebt, wenn diesem die Arbeit nicht schnell genug ging, und er hatte sich jedes Mal beugen müssen. Laurenti duldete nicht viel Widerspruch, das hatte er inzwischen gelernt.
»Nachbarn?« Laurenti hatte sich wieder an Sgubin gewandt.
»Sind schon alle befragt. Nichts. Absolut nichts.«
»Ich fahre ins Büro und suche die Angaben«, sagte Laurenti. »Sgubin, ich würde gerne mit dir sprechen. Begleitest du mich nach unten?«
Sgubin folgte ihm.
»Glaubst du wirklich, daß dies ein Selbstmord ist?« fragte Laurenti.
»Sieht zumindest so aus. Warum? Was denken Sie?«
»Soll so aussehen, Sgubin. Aber ich glaube es nicht.« Sie waren am Rand der Böschung angekommen. Laurenti rutschte als erster hinunter und zog, als er auf der Straße stand, die Schuhe aus, um den Dreck auszuschütteln. »Ich habe noch nie erlebt, daß jemand sich einen solchen Ort ausgesucht hat, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Das hat keinen Sinn. Sie wollen gefunden werden.«
Sgubin nickte.
»Und wie ist er hergekommen? Habt ihr ein Fahrzeug gefunden?«
Sgubin schüttelte den Kopf. »Nein. Die Autos hier haben wir überprüft. Sie gehören alle den Anwohnern.«
»Glaubst du etwa, er hat sich ein Taxi genommen? Letzte Nacht? Oder sich von jemand anderem hier absetzen lassen, um sich dann umzubringen?«
»Und wenn er hier oben wohnt?«
»Dann hätte er sich zu Hause den Schädel weggeblasen. Warum sollte er hinausgehen? Außerdem wohnt der nicht hier oben, Sgubin. Da bin ich mir ganz sicher.«
»Also Mord?« Sgubin schaute ratlos.
»Wenn du mich fragst, schon. Ich schau mir jetzt mal die Akten an. Wir reden dann später darüber, wenn wir wissen, wer er ist. Aber ich habe noch eine Bitte«, wandte sich Laurenti an den Assistente Capo. »Du hast ja noch einige Stunden Dienst. Jemand muß mal die Nachbarn in der Via dei Porta befragen, was in der letzten Zeit in der Villa los war. Dein Chef, Fossa, hat irgendwelche Andeutungen gemacht. Sag ihm nichts davon. Ich würde es gerne völlig neu erzählt bekommen. Es läßt mir seither keine Ruhe, und ich kann nicht einmal sagen, warum.«
Sgubin sagte, er würde in spätestens einer Stunde damit anfangen. Laurenti schwang sich wieder auf den roten Motorroller seines Sohnes und suchte sich den Weg zurück in die Stadt. Er würde seine Mutter nicht abholen können, bevor er den Namen des Toten nicht herausgefunden hatte. Er hatte es ziemlich eilig, hoffentlich reichte das Benzin.
Um elf war Laurenti im Büro und suchte in den Aktenschränken in Mariettas Zimmer nach den Unterlagen, in denen auch der Tote von Montebello verzeichnet war. Er kannte sich nicht gut aus in seinem Sekretariat und brauchte eine ganze Weile, bis er fündig geworden war.
Leonid Chartow hieß der Mann und wohnte seit neun Monaten in der Via Ponzanino Nr. 46. Gebürtiger Ukrainer, gültige Aufenthaltsbewilligung. Tätig als Hafenarbeiter. Anfang Juni war es am Terminal Ausonia, wo die schweren Lastwagen Richtung Türkei verschifft wurden, zu einer Schlägerei mit Todesfolge gekommen. Charkow war als Zeuge vernommen worden, blieb aber so unergiebig wie die anderen Zeugen.
Laurenti notierte die Angaben und hängte die Akte zurück in die Registratur der jüngeren Fälle.
Dann rief er im »Piccolo« an, ließ sich mit Rossana Di Matteo verbinden und fragte, ob sie schon einen Bericht von Decantro hätte.
»Er ist soeben eingetroffen und sichtlich guter Dinge. Er sagt, er habe kaum geschlafen, sei bis sechs Uhr unterwegs gewesen. Jetzt schreibt er eifrig in den Computer. Heute Abend fährt er wieder mit. Es scheint ihm Spaß zu machen.«
Laurenti war zu neugierig, also suchte er die Telefonnummer von Vicentino heraus und wählte.
Vicentino meldete sich mit verschlafener Stimme. »Pronto!«
»Entschuldige, wenn ich dir den Schlaf raube. Aber ich wollte hören, wie es mit dem Journalisten gegangen ist.«
»Es war eine ruhige Nacht, Chef, es ist nicht viel passiert. Am Anfang fragte er uns Löcher in den Bauch,
Weitere Kostenlose Bücher