Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
die Schatten im Tal noch düsterer erscheinen. Die warme Nachmittagsluft hatte einem stechenden Geruch nach abgebranntem Feuerwerk Platz gemacht.
Müller bewunderte die ausladende geschweifte Ründi, die mit floralen Motiven in Gelb und Grün bemalt war. Dazwischen sah er auf der einen Seite einen Senn vor dem Käsekessi, auf der anderen ein Milchmädchen mit einer Bränte auf dem Rücken. Zum Glück keine Milchhexe, dachte der Detektiv, der etwas zu lange im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens gelesen hatte.
Die Tür zur Gaststube stand offen. Nicole ging auf ihr Zimmer, um sich für den Abendservice bereit zu machen. Müller betrat den leeren Wirtsraum. Kaum hatte er sich an seinen gewohnten Platz gesetzt, erschien die Aushilfsbedienung, ein spätberufenes Mädchen Anfang 30, das tagsüber von Freitag bis Sonntag arbeitete, wie es dem Detektiv sofort erklärte, als es ihm die Speisekarte reichte.
»Lilly ist mein Name«, sagte es, »darf ich mich zu Ihnen setzen, während Sie auswählen? Es ist ein bisschen langweilig, weil alle noch mit der Alpabfahrt beschäftigt sind und heute kaum vor dem Abend kommen werden.«
Müller sah keinen Grund, gegen diese Bitte Einwände vorzubringen, aber dass ihm die junge Dame, die ihn mit einem schmachtenden Blick aus dunklen Augen ansah, gefallen hätte, könnte man nicht behaupten. Ihre braunen Locken fielen schwer übers ovale Gesicht, und die leicht geöffneten Lippen verstärkten den Eindruck unverhohlener Not. Nun beugte sich Lilly über die Speisekarte, zeigte mit zwei Fingern auf das Tagesgericht und sagte: »Das ist das gleiche wie gestern. Ich würde Ihnen etwas anderes empfehlen.«
In der abrupten Bewegung war der oberste Knopf der Bluse aufgeplatzt, was Müller einen schwankenden Busenansatz darbot und ihn an ein B-Movie der Fünfzigerjahre denken ließ. Dabei strömte Lilly wenig Sinnlichkeit aus. Tagsüber gestylt wie ein zweitklassiger Filmstar, dachte Henry, nachts im Pyjama von Ottos Schadenposten.
Es litt an Weltschmerz; europamüde und lebenssatt war es zwar noch nicht, aber es klagte sehr, wie es keine Freude hätte, nirgends hin käme, ganz versauren müsse. Nicole hatte ihn irgendwann an diesem Nachmittag vorgewarnt, dass die Tagesbedienung jeden zweiten Auswärtigen fragte, ob er sie heiraten möchte, weil jeder andere Ort besser sei als Kurzenau.
Die Auswahl an Speisen beschränkte sich auf wenige Menus: Cordon bleu ›Maison‹ mit Pommes frites, Kurzenau-Geschnetzeltes mit Rösti (dreierlei Fleisch: Schwein – Rind – Kalb), Riz Casimir, Rahmschnitzel mit Früchten und Nudeln, Speckrösti. Keine kulinarischen Höhenflüge.
Lilly war von einer kleinen Tour durch die Gaststube zurückgekehrt. Sie hatte eine Stange abgezapft, an der Musikbox ein paar Tasten gedrückt und ein loses Blatt mitgebracht. »Unser Spezialangebot dieses Wochenende«, sagte sie, indem sie die Lippen missbilligend schürzte. Die Klostertaler jammerten im Hintergrund eines ihrer österreichischen Voralpenlieder, Müller las: Geräuchertes Euter mit den letzten Stangenbohnen und Bratkartoffeln. »Das nehme ich«, sagte er voller Überzeugung und in der inbrünstigen Hoffnung, dass er wegen dieses Ekelmenus die Bedienung nicht heiraten müsse.
Er hatte gesehen, dass Lilly dunkelbraune Stützstrümpfe trug, deswegen sagte er, als sie sich wieder zu ihm gesetzt hatte: »In unserer Kindheit wollte man uns weismachen, durch die Laufmaschen in den Nylonstrümpfen entweiche die Hitze der Frauen. Wir stellten uns also möglichst nah an ihre Beine, um davon zu profitieren.«
»Machen Sie sich nicht über mich lustig«, entgegnete Lilly, »das Leben ist schon schwer genug. Seit Jahren suche ich einen Mann, der mich aus diesem Tal wegbringt.«
»Weshalb warten Sie denn auf einen Mann? Warum sind sie nicht selber gegangen?«, fragte Müller nach dem ersten Schluck Bier.
»Was hätte ich denn tun sollen? Erst war es nicht wichtig, einen Beruf zu lernen. Man hat mir immer gesagt: Du heiratest einen Bauern, da musst du werchen können und nicht einen Beruf lernen, der dich hoffärtig macht, sodass du keine schmutzigen Finger mehr haben kannst. Dann sind die Eltern krank geworden, erst die Mutter, und als diese nach kurzer Krankheit gestorben ist, mochte auch der Vater nicht mehr leben. Nicht einmal Wasser kochen konnte er, wie hätte er sich da durchs Leben schlagen wollen. Ich habe also die Tiere verkauft und vom Erlös ein paar Jahre im Elternhaus leben können. Aber nun muss
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