Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
ich hier arbeiten. Ich kann mir keine Wohnung in der Stadt leisten. Nur Singen, das habe ich immer gerne gemacht. Heute würde ich mich für die Fernsehshows anmelden, die Schweiz sucht den Superstar.«
»Was haben Sie denn gesungen?«, fragte Müller, und er war wirklich neugierig.
»Nichts, was Ihnen gefallen würde. Ich hab gleich gemerkt, dass Sie nicht auf die Klostertaler stehen. Aber solche Musik eben. Sogar drei CDs sind veröffentlicht worden. Lilly Sonnenschein und die Emmentaler Spitzbuben. In meiner Bewerbung kann ich dann schreiben: ›Ich hatte drei Nummer Eins in der Emmentaler Hitparaden Aber der Chef sagt: ›Du kannst die Kasse nicht bedienen.‹«
Mit ihrer langsamen, behäbigen Berner Stimme ergänzte sie noch: »Man soll im Leben nicht zu schnell vorwärts gehen. Die Seele kommt sonst nicht mit.« Ihr Herz war nicht im Tanz, sie tanzte wie eine Dulderin, um nicht zu sagen wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird.
Müller hätte sich beinahe gefangen nehmen lassen von der Melancholie des Augenblicks, konnte sich aber doch beherrschen, Lilly in den Arm zu nehmen und sie zu trösten. Dafür brauchte es ein anderes Kaliber, als er es war. Außerdem war sein Sarkasmus der Erdverbundenheit dieser Bauerntochter nicht angemessen.
»Sie wissen, warum ich hier bin?«, fragte er.
»Ja«, seufzte Lilly und wollte sich bereits vom Tisch erheben.
»Wissen Sie irgendetwas von der Sache? Wenn Housis Tod als Selbstmord durchgeht, dann kriegt die Familie kein Geld von der Versicherung.«
Das weckte den Gerechtigkeitssinn der Romantikerin, die sich sehr gut in die Lage einer vom Tod betroffenen Familie versetzen konnte. Die Aussicht auf ein Leben ohne Geld schreckte Lilly, denn sie sagte: »Das darf nicht geschehen. Da kann doch die arme Frau nichts dafür, wenn der Housi …“
»Was redest du für einen Blödsinn«, rief der Wirt aus der Küche. Er hatte offenbar alles mitgehört. Dann trat er durch die Tür an die Theke. »Glauben Sie ihr kein Wort.«
»Aber ich hab doch noch gar nichts gesagt«, jammerte Lilly. »Außerdem weiß ich, was ich weiß! Da soll mir niemand befehlen, ob ich zu reden habe oder nicht. Unrecht ist es doch, wenn Housis Frau nichts kriegt.«
Der Wirt zuckte die Schultern.
Im Hintergrund stöhnte James Blunt seine präkoitale Belästigung ›You’re beautiful‹.
»Wie war das denn vor zwei Jahren«, fuhr Lilly fort, »als Housi nicht mehr im Bären übernachten wollte, sondern lieber auf die Wildenalp ging, selbst im Winter? Wie schnell haben da Gerüchte die Runde gemacht, er habe ein Verhältnis mit der Bär? Und woher ist er am letzten Sonntag gekommen?«
Die Fragen blieben unbeantwortet im Raum stehen.
Dafür brachte der Wirt nun das fein geschnittene Euter, stellte den prall gefüllten Teller an Heinrichs Platz und sagte zu Lilly: »Bring dem Detektiv ein Halbeli Roten. Dann kannst du nach Hause gehen. Nicole übernimmt in einer Viertelstunde.«
Am Abend saß die Viererbande wieder am Stammtisch, die Graber-Cousins und die Bär-Cousins. Nur etwas hatte sich geändert. Die Bauern hatten bei ihrer gemeinsamen Ankunft im Bären bemerkt, dass Müller das Spezial-Menu zu sich nahm und baten ihn dann an ihren Tisch. Nach dem Bären- Kaffee wurde um den Wein gestritten. Fendant, Luins und Epesses standen bei den Weißen zur Wahl, Dôle, Salvagnin und Luins bei den Roten. Eher der Eisberg als die Spitze des Eisbergs, dafür bekömmlich fürs Portemonnaie.
Man sprach über die Schwingfeste vergangener Jahre, über die Leiden des beginnenden Alters, über die Zeit, als Pelé noch Fußball gespielt hatte. Man sprach über die Schweiz, die erste Mannschaft, die an einer Weltmeisterschaft ausschied, ohne ein Gegentor kassiert zu haben. Rekordverdächtige Igelmentalität.
»Taktik, gute Organisation, abstraktes Spiel, Langeweile«, sagte Graber Rüedu über die Fußballweltmeisterschaft 2006. »Es kommt einem vor wie mit der Entwicklung des Glaubens. Früher war das Leidenschaft und Hingabe, Kunst und Freude. Und was ist daraus geworden? Bilderverbot und leidenschaftsloser Geschäftssinn. Protestantische Ethik eben. Im Fußball wie in der Religion.«
»In deinem schwärmerischen Ausfall vergisst du die Allmacht und die Furcht, die mit der Leidenschaft einhergeht. Und du unterschätzt das Sicherheitsbedürfnis, das der materielle Erfolg garantieren soll«, meinte sein Cousin.
Der alte Mann mit den schlohweißen Haaren setzt sich dazu, Ramseier Werner, das Dorforiginal,
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