Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
ehemaliger Stationsvorsteher der Bern-Luzern-Bahn, wie sie im Tal immer noch genannt wurde, und Besitzer einer aufgegebenen Kapelle. Er grüßte knapp in die Runde, nickte Müller zurückhaltend zu, setzte sich auf einen Stuhl. Die schwere Holzkassettendecke lastete auf ihm, vielleicht waren es auch die Gespräche der Anwesenden über die Abwesenden, jedenfalls blieb er still und stumm, stützte den Kopf in beide Hände und schlief langsam ein, drohte vom Stuhl zu kippen.
Jedes Mal, wenn es im Lokal lauter wurde, schreckte Ramseier aus seinem Schlaf auf und nickte wie zur Bestätigung des eben Gesagten. »Alle haben eine Meinung, aber keiner eine Ahnung«, brummelte er.
Bis es einer merkte, waren drei weitere Flaschen Bier bestellt, »und ein Einerli Luins, Fröllein«, bläfzgte Ramseier hinterher. Nicole streckte ihm hinter seinem Rücken die Zunge heraus. »Ihr solltet wieder mehr der Natur zuhören und ihren Willen achten.«
Es tönte wie der Anfang einer Rede, nicht wie ein Beitrag zum vorherigen Gespräch. Dennoch widersprach keiner.
»Er hat eine lichte Phase«, flüsterte einer in Müllers Ohr.
»Ihr sollt nicht gegen Gottes Gebot verstoßen und den Kühen die Hörner wegbrennen. Es sind Kreaturen, die genauso leiden wie wir. Man muss die Dinge neu arrangieren und in einen anderen Verständniszusammenhang bringen. Wenn man zum Beispiel eine Tabelle statt von oben nach unten von rechts nach links anordnet, bekommt man ganz andere Resultate. Die Darstellung beeinflusst das Denken. Ihr müsst die Fragestellungen umkehren:
Was wäre, wenn die Vogelgrippe vom Menschen auf die Vögel übergesprungen wäre? Wie könnte sich das Gefieder zur Wehr setzen? Alles nach Gottes Lebensplan.«
»Nun lass gut sein, Ramseier«, meinte Ueli Graber und kratzte sich am Doppelkinn. »So gottesfürchtig bist du auch nicht. Oder hast du vergessen, wie du den Habegger aus dem Tal gejagt hast mit deinen ständigen Anschwärzungen?«
»Der ungläubige Hund. Der hat das Vieh nach den Lostagen auf die Weide gelassen und nach dem Mondkalender seinen Garten bestellt. Dabei ist die Welt ein Garten Eden. Gott hat seinen Kindern beigebracht, auf ihn zu hören, nicht auf Götzen wie den Mond.«
»Aber der ist doch auch von Gott erschaffen worden«, beeilte sich Graber Rüedu zu sagen.
»Und wer ist Habegger?«, fragte Müller, den alle vergessen hatten.
Ernst Bär meldete sich zu Wort, der überhaupt für die Aufklärung des Detektivs im nötigen Maß, aber nicht darüber hinaus, verantwortlich schien: »Habegger war Kräuterheiler, Handaufleger und Rutengänger. Er hat die Leute im Tal geheilt, die nicht zum Doktor gehen wollten oder die von den Ärzten bereits aufgegeben worden waren.«
»Er hat gegen Gottes Plan verstoßen«, brummte Ramseier. Er wirkte wie der Racheengel mit handlangem, ungekämmtem Haar und ebensolchem Vollbart.
»Du hast es oft und laut genug betont. Jetzt fahren die Kranken eben ins Entlebuch, damit ihnen jemand hilft. Dabei hat doch deine Frau dasselbe getan.«
»Lass meine Frau aus dem Spiel. Die war viel zu gut für deine Zunge. Ich hätte den Habegger umgebracht, wenn er in seinem heidnischen Tun fortgefahren wäre.« Er sagte es wie eine alltägliche Feststellung, schlug dabei aber derart laut mit seiner Faust auf den Tisch, dass es augenblicklich still wurde in der Gaststube.
Dann verließ er wort-und grußlos den Saal.
Erst nach und nach kehrte wieder die emsige Geschäftigkeit ein, die vorher geherrscht hatte.
»War er schon immer so?«, fragte Müller in die Runde.
»Der Ramseier? Nein. Das hat vor ein paar Jahren begonnen wegen einer Geschichte, die er uns nie erzählen wollte. Ich glaube, er war ein letztes Mal verliebt, und diese Frau hat ihn sitzen lassen. Damals begann seine religiöse Phase. Er ist ein lieber Mann, aber wenn er zu viel getrunken hat, wird er unausstehlich.«
»Der Weggang von Habegger war also ein Verlust für das Tal?«, fragte Heinrich.
»Ein gewaltiger Verlust sogar«, sagte der Wirt, der sich nun mit einem Teller seines Spezialmenus ebenfalls zu ihnen gesetzt hatte, er, der sich sonst lieber in die Küche zurückzog.
Müller begann zu erzählen: »95 bis 99 Prozent des Wissens der Menschheit werden in Form von Geschichten weitergegeben. Natürlich lernen wir in der Schule Formeln und abstrakte Zusammenhänge. Aber dafür haben wir Tabellen, Lehrbücher, Computer. Was uns wirklich in Erinnerung bleibt, sind die Geschichten, gute und böse. Wenn uns die Fähigkeit
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