Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
ausgiebigen Trainingswochen eine Nummer größere Kleider hatte beschaffen müssen. Den zusätzlichen Schokoring hatte sie seither nicht wieder weggebracht. Lange hatte sie sich später gefragt, was sie zur Teilnahme an diesem Wettbewerb bewogen hatte. Aber dann gab sie sich einen Ruck, denn sonst wisse man ja gar nicht, für was man auf der Welt sei, und was für ein Unterschied sei zwischen Mensch und Vieh.
Drinnen ging es hoch her. Das Glockengeläut verstummte hinter dem Lärm der Bauern, der nur noch stärker wurde, als Müller mit Ramseier im Schlepptau eintrat und die Tür hinter sich zuzog. Die vergilbten Vorhänge schluckten mit dem Rauch der Zigarren auch das letzte Restchen Sonnenlicht.
Rudolf Graber winkte die beiden an den Stammtisch. Ramseier wiederholte stur seinen Satz.
Rüedu zog die Pfeife aus dem Mund, setzte sie auf Müller an und sagte: »Du hast schon längst gewusst, dass der Unfall von Housi Bähler kein Selbstmord war. Deswegen bist du seit Mittwoch hier. Und kein Wort hast du gesagt. Niemanden gewarnt, dass ein Mörder im Tal ist.«
Der Detektiv zuckte die Schultern. »Ihr hättet es mir doch nicht geglaubt. Was hättet ihr denn gemacht?«
»Meine Schwägerin geschützt!«, rief Fritz Bär, dessen neckischer Blick heute ziemlich stumpf war.
»Hättest den Ernst halt nicht saufen lassen dürfen wie eine verdurstende Kuh gestern Abend«, brummte Ulrich Graber.
»Jetzt soll ich auch noch Schuld sein!«, schrie Fritz.
»Wer sagt denn, dass Ernst seine Frau umgebracht hat?« Müller versuchte zu beruhigen.
»Na hör mal«, sagte einer vom Nebentisch, »mit dem blutigen Beil haben sie ihn gefunden. Abgeführt haben sie ihn.«
»Dann hätte er aber auch den Housi Bähler auf dem Gewissen«, sagte Müller, »und das leuchtet mir nicht ein.«
Diese Worte brachten die Leute auf andere Gedanken.
»Das alles wäre nicht passiert, wenn der Staat besser zu den Bauern schauen würde«, sagte einer.
»Das System ist korrupt«, meinte ein anderer. »Früher gab es die Schweizerische Käseunion, die allen Hartkäse des Landes aufkaufte und vermarktete, Emmentaler, Greyerzer, Sbrinz, mit klar definierten Kontingenten. Du wusstest am Anfang des Jahres, was du am Ende in der Kasse hattest. Dann kam die Liberalisierung. Jetzt kriegst du Direktzahlungen nach der Fläche des Betriebs. Wie soll da einer in der Bergzone mithalten können, einer, der zehn Chueli sein eigen nennt auf 900 Metern Höhe?«
»Dann bringst du die Milch in die Käserei. Seit die aber den Emmentaler nicht mehr an Moloko verkaufen kann, zahlt sie immer weniger. Wo soll das noch enden?«, fragte ein anderer, aber die Frage war rhetorisch.
»Para-Grafen und andere Fürsten und Herren«, meinte ein Dritter.
»Dann wundert es einen, dass beim Tod des Einwägers nachgeholfen worden ist.« Dieser Einwand blieb ohne Erwiderung.
»Der Eichenberger müsste halt diversifizieren«, meinte wiederum der erste.
Dann ging es wild durcheinander.
»Verschiedene eigene Käsesorten herstellen, den Verkauf direkt an die Kundschaft organisieren, Wirtschaften mit hochwertigen Produkten beliefern.«
»Wer sagt denn, dass ein Käse immer rund sein muss? Quadratischen könnte er herstellen, passt besser auf das Toastbrot.«
»Dafür war er zu lange am Gängelband der Industrie. Der kann doch nicht mehr umdenken in seinem Alter.«
»Und investieren müsste er. Aber der Werner hat kein Geld, und woher soll die Genossenschaft welches nehmen?«
»Ich jedenfalls«, mischte sich nun Fritz Bär ins Gespräch, »mache in Zukunft meinen eigenen Alpkäse. Du konntest es lesen, sie haben wissenschaftlich bewiesen, dass Alpkäse Glückshormone enthält und die besonders gesunden Omega-3-Fettsäuren, die auch in den Fischen vorkommen. So was reißen sie dir in der Stadt aus der Hand. Dafür kannst du mehr verlangen als für normalen Käse. Ich würde ja Perlen vor die Säue werfen, wenn ich meine Alpmilch weiterhin in den großen Topf leeren würde.«
»Wir sind dann die Säue!«, brüllte einer beleidigt. »Pass auf, was du sagst, sonst bist du der Nächste.“ Und er ballte die Fäuste.
Diese unbedachte Aussage bremste die aufkommende Wut. Man spürte allerseits, dass man nun doch einen Schritt zu weit gegangen war. Statt dass sich der Bauer für seine Drohgebärde entschuldigte, wandte er sich von Fritz Bär ab.
Müller begriff, dass hier tiefe Gräben vorhanden waren, nicht erst seit Bählers Tod. Sie waren nur seither mit Vehemenz aufgebrochen, wie
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