Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
Sie wurde von manchem begehrt.«
»Deswegen hätte der Ernst aber seine Frau nicht umbringen müssen«, meinte Heinrich. »Und wenn schon, hätte er das Haus anzünden können, so besoffen war er nicht, dass er das nicht noch geschafft hätte. Zwei Fliegen mit einer Klappe: die Frau tot, das Haus weg, die Versicherung zahlt, man kann noch mal neu anfangen, weil kaum Spuren zu finden sind.«
»Jetzt fantasierst du aber«, brummelte der Weißhaarige. »Der Ernst ist kein Brandstifter – und ein Mörder sowieso nicht. Der hat seine Frau geliebt, falls man in der Stadt noch weiß, was Liebe ist.«
Die beiden schwiegen eine Weile, Werner Ramseiers Atem ging stoßweise und roch bereits stark nach billigem Schnaps.
»Keinen Durst?«, fragte er, nickte mit dem Kopf gegen den Bären und zerrte an seinen Hosenträgern.
»Sie sollten Ihr Geld lieber auf der Bank anlegen als im Wirtshaus«, sagte der Detektiv, »da kriegen Sie zwei Prozent.«
»Aber wieso denn«, erwiderte Ramseier, »beim Branntwein hab ich 40!«
»Nach dem Schrecken dort oben könnte ich auch ein Gläschen gebrauchen«, meinte Müller und lachte.
»Dann komm, gib mir einen aus. Und sag Werner zu mir.«
Als sie sich von der Bank erhoben, begannen die Glocken der Kirche zu läuten, erst die kleine, hellere, dann die beiden größeren. Kein besonders harmonischer Klang, aber laut genug, um das ganze Tal zu wecken.
»Früher«, sagte Ramseier, und früher war ein wichtiges Wort in seinem Denken, »hatte der Glockenschlag noch etwas zu bedeuten. Als noch nicht jeder eine Uhr hatte, gaben sie dem Tag eine Einteilung, die für alle gleich war, für die Reichen und die Armen, die Gläubigen und Ungläubigen: Aufstehen, Mittagessen, Schlafengehen. Wenn ein Kind geboren wurde, schlug die kleinere, helle Glocke für ein Mädchen, die größere, dunkle für einen Knaben. Und bei einem Todesfall hatte man eine eigene Melodie für Erwachsene und Kinder, ja selbst für getaufte und ungetaufte Kinder. Nur für die Selbstmörder läutete sie nicht.«
»Und für Therese Bär von der Wildegg, wie wird sie läuten?«, fragte Müller.
»Ach!« Unwirsch verwarf Ramseier die Hände. »Heute gehen die Traditionen verloren. Nicht nur das Schlagen der Kirchglocken. Auch von den althergebrachten Redensarten haben die Leute keine Ahnung mehr. Heutzutage streicheln die Menschen ihre Haustiere ausgiebiger als ihre Partner. Bei vielen dürfen sie auch mit ins Schlafzimmer.«
»Mein Kater darf aufs Bett. Eine nette Frau dürfte sogar unter die Decke.« Müller seufzte und fragte dann: »Was war sie denn für ein Mensch, die Therese?«
Ramseier brauchte nicht lang zu überlegen. »Sie war schön. Nicht nur schön im landläufigen Sinne, in ihrem Äußeren, sondern schön von innen heraus, in ihrer ganzen Haltung. Wem das Wort ›schön‹ nicht ausreicht, wer einen Superlativ braucht, füge ein ›huere‹ aus der Gassensprache hinzu, oder ein ›rüdä‹, wenn die Frau aus dem luzernischen Entlebuch stammt.«
»Aber von denen kommen nur wenige bis ins Emmental, obwohl es nur knappe zehn Kilometer von hier entfernt ist, hab ich gehört«, sagte Müller.
»Meine Frau kam von dort. Aus Wolhusen. Aber im Entlebuch, da hocken die Katholischen.
Ein Wunder, dass die beiden Talschaften im Bauernkrieg 1653 zusammengehalten haben!«
So unvermutet, wie Ramseiers Redseligkeit gekommen war, verschwand sie nun wieder, und als die beiden vor dem Bären standen, brummelte er vor sich hin: »Es war im Jahr des Herrn 1291 …“
Vor dem Bären stand Lilly, rauchte eine Zigarette und ließ ihren Blick so weit in die Ferne schweifen, wie es in diesem engen Tal nur möglich war. Immerhin weit genug, um Müller und Ramseier nicht zu bemerken, als sie an ihr vorbei die Gaststube betraten. Lilly träumte von besseren Zeiten. Die Erinnerung an die drei Tage Anfang der Neunzigerjahre, 15 Jahre alt war sie damals, als sie die ungekürte Königin der Sichlete war, der Emmentaler Variante des Erntedankfests, übermannte sie wieder einmal. Es waren die drei Tage in ihrem Leben, in denen das Schicksal ihr wohl gesinnt war, in denen sie der Mittelpunkt der Welt, in denen sie sich selbst sein durfte. Seit damals … ach, sie mochte nicht einmal darüber nachdenken. Im letzten Jahr allerdings hatte sie die vom gemeinnützigen Frauenverein ausgerufene ›Meisterschaft im Zergehenlassen von Schokolade im Mund« mit großem Vorsprung gewonnen. Mit Schaudern erinnerte sie sich daran, dass sie nach den
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