Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
Jahren alles vorgefallen ist.«
»Etwas anderes hat mich nach dem Kurs sehr beschäftigt«, ergänzte Zaugg, und erwirkte verschreckt und müde, als er es sagte: »Es besteht ein Austausch zwischen dem Täter und dem Opfer. Der Täter nimmt etwas mit oder lässt etwas zurück. Die Opfer leisten mit ihrem Verhalten einen Beitrag zum Erfolg des Täters. Deswegen gibt es kein perfektes Verbrechen.«
Die Aussage des Polizisten wollte Heinrich Müller nicht aus dem Kopf. Er suchte den Beitrag der Opfer, aber dieser Gedankengang war so unwirklich, dass er nicht befreit denken konnte.
Samstag, 23.9.2006
Müller traf Werner Ramseier gegen Mittag auf der Bank vor dem Friedhof, dort, wo selbst vor dem letzten Gang der Grünabfall noch separat getrennt werden soll. Er hatte sein Auto auf dem Schulhausparkplatz stehen gelassen, da vor dem Bären alles besetzt war. Direkt neben dem Gotthelf-Denkmal bestaunte er die Kuhglockensammlung, die von der Veranda eines Bauernhauses hing und die ihm bei seinem Abendspaziergang nicht aufgefallen war. Der Geruch von sonnengeschwärztem Holz entströmte der Hauswand. Die Fenster im Parterre, hinter denen man zwei sauber gemachte Betten mit weißen Kissen sehen konnte, lagen nur noch knapp über Straßenniveau.
Ramseier zeigte mit seiner knochigen Hand auf die Autos vor dem Bären und sagte: »Am Samstag geht es normalerweise besser mit dem Parkieren. Da sind die meisten damit befasst, in langweilige Einkaufszentren zu fahren, und verbringen den Rest des Tages damit, den Müll zu sortieren, den sie eingekauft haben.«
»Und heute?«, fragte Müller.
»Ist alles anders wegen den Bärs oben auf der Wildegg.« Er sog an seiner Alt-Berner Pfeife, in der schon längst kein Tabak mehr brannte. Sie hing schief im Mund. Der direkt am Stiel montierte Kopf aus Bruyèreholz war abgewetzt, der aufpunzierte Enzian schwärzlich, die kurze Silberkette hing herunter. Plötzlich sagte der Alte bedeutungsschwanger: »Die Kuh säuft Grundwasser.«
Er hatte also doch die ganze Zeit zugehört gestern Abend. Nur verstand Müller wieder mal nichts von der Eingeborenensprache.
»Weißt du, Detektiv«, hob Ramseier seine Stimme, »am Stammtisch wird so manches geredet, wenn der Tag lang ist. Vor vielen Jahren haben wir uns einen Spaß daraus gemacht, neue Sprichwörter zu erfinden. ›Dem geht der Arsch auf Grundeis‹, solche Sprüche durften wir zu Hause nicht bringen, dann sind die Weiber zum Pfarrer gerannt, damals. Also haben wir umgedichtet.«
»Und was bedeutet nun der Spruch mit der Kuh?«, wollte Hein endlich wissen.
Ramseier druckste herum. »Es ist halt so, dass man über die Toten nichts Schlechtes sagen soll. Der Bär Ernst hat hohe Schulden, du verstehst schon, keine Quelle mehr, die Geld gespuckt hätte, er musste das letzte Wasser abschöpfen. Sein Heimetli oben auf der Egg trägt nichts ab, knapp für den Eigenbedarf, und die meisten Kühe hat er verkauft, als der Milchvertrag gekündigt worden ist. In seinem Alter wollte er nicht mehr auf Mutterkuhhaltung umsteigen, die Mühe lohne sich nicht, meinte Ernst. Kurz bevor es zu Ende ging, hat er es noch mit Nachtmilch probiert.«
»Nachtmilch?«
»In der Nacht soll die Melatonin-Konzentration in der Milch besonders hoch sein. Sie kann dann sozusagen als Schlafmilch verkauft werden. Zu einem viel höheren Preis, versteht sich. Aber die Behörden haben das Anpreisen der gesundheitsfördernden Wirkung verboten. Widerspricht dem Arzneimittelgesetz.«
»Seine Frau wird wohl kaum damit zufrieden gewesen sein«, mutmaßte Müller.
»Getobt hat sie und mit dem Auszug gedroht. Aber so schön wie auf den Plakaten in Bern war sie halt auch nicht mehr. Jeder wird älter.«
»Woher kennen Sie denn das Plakat aus Bern?«
»Ja, Herr Detektiv, was meinst du, wie schnell sich so etwas in einem Tal wie dem der Kurzen herumspricht, wenn so ein sündiges Stadtweib einen Bauern heiratet. Alle haben’s gewusst, alle haben’s gesehen, das Plakat. Dafür hat Cousin Fritz auf der Wildenalp schon gesorgt. Therese war aber auch eine schöne Frau, klein, mit einem weichen Körper und vollen Brüsten, mit rotbraunem langem Haar, einem feinen Gesicht mit breiten Wangenknochen. Und Sommersprossen! Da hättest du dich glatt in sie verliebt. Noch heute hätte sie ihr Haar nicht färben brauchen, auch wenn sich die eine oder andere weiße Strähne hinein geschlichen hat. Therese war immer noch eine attraktive Frau, die Gesichtszüge elegant, aber ein wenig verhärmt.
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