Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
wenn der Wunsch die Triebfeder weiteren Handelns wäre.
Fritz nahm unter dem Tisch einen in ein rotweißkariertes Küchentuch gewickelten kleinen Käselaib hervor, schlug ihn aus seiner Verpackung und legte ihn mitten auf den Tisch.
»D AS ist die Versuchsserie«, sagte er und rief dann: »Heinz, ein Messer, eine Flasche Epesses und sechs Gläser.«
Hei, wie da der Wirt geflogen kam, man hätte glauben können, es wäre ein Engelein, wenn irgendwo geschrieben stünde, dass Engelein drei Zentner schwer würden und Rücken hätten wie Tennstore.
Fritz Bär gab jedem ein großes Stück vom Käse. Ein Aroma von karamellisierter Milch und heißen Sommertagen breitete sich im Mund aus.
Die Männer kauten bedächtig und langsam, damit sich der Geschmack richtig entfalten konnte.
Sie schwiegen im Chor.
Und sie verfielen in Gedanken.
Sie hielten ihre Gedanken für große Errungenschaften. Sie entstanden immer beim Wein in der Kneipe, es waren immer dieselben, die sie seit Jahren plagten. Aber sie konnten nicht ohne sie leben, sie liebkosten sie und hätten sie nicht einmal verraten, wenn sie mit einer Pistole – oder sagen wir mit einem Beil – bedroht worden wären. Eigentlich waren diese Gedanken altbekannt, aber da man selten aus dem Tal herauskam, hielt man sie für originell. Das berechtigte dazu, sich als Entdecker, als Geheimnisträger zu fühlen. Darauf beruhte ihre gesamte Existenz.
Dass Abstraktionen und Verallgemeinerungen zugleich eine geistige Einschränkung bedeuteten, das wusste keiner. Je allgemeiner eine Aussage wurde, desto weniger stimmte sie. Zu einer gedanklichen Katastrophe wurde sie, wenn sie für alle Elemente einer Behauptung gültig sein sollte, für Männer oder Frauen, für Völker oder die Menschheit als Ganzes, für Verhalten oder Meinungen. Dann dachte keiner mehr darüber nach, wo die Sache ihren Ursprung hatte. Manchmal wurde ein Sprichwort daraus. Morgenstund hat Gold im Mund beispielsweise.
Müller kannte einige Tage, da hatte der Morgen bestenfalls alte Plomben und fleckige Zähne im Rachen.
Samstag, 23.9.2006
Nach dem Mittagessen begab sich Müller noch einmal zu Fuß in Richtung Wildenalp, zur Spurensuche, wie er sich selber einredete. Aber es gab nichts zu suchen, jedenfalls nichts, was ihn der Lösung des Falles näher gebracht hätte. Der beste Weg beim Wandern, dachte er, ist der Weg nach oben. Nun kamen ihm Zweifel: regelmäßig begegneten ihm Einzelpersonen, Gruppen, ja sogar Familien, grüßten zurückhaltend und gingen eilenden Schrittes weiter, während Müller sich ständig den Schweiß aus den Augen wischte. Dabei müsste er bei seinem gemächlichen Tempo laufend von kräftigen Bergbauern überholt werden. Aber nichts Derartiges geschah. Alle eilten ihm mit einem Ziel entgegen, das ihm als Einzigem unbekannt schien.
Endlich blieb einer stehen: Fritz Bär, der Gesprächigste unter den Berglern. Er trug eine schlaffe Faserpelzjacke im muffigen Grün hilfloser Weihnachtsbäume am siebten Januar.
»Was rennt ihr alle ins Tal hinunter?«, fragte der Detektiv.
»Hast du es noch nicht gehört? Der Mörder hat versucht, mit der Polizei in Kontakt zu treten. Vielleicht erzählen dir die beiden Polizisten mehr. Dein Geld bist du offenbar nicht wert.« Damit entfernte er sich.
Müller schüttelte den Kopf. Dann hielt er auf Blaser und Zaugg zu, die ihm nun ebenfalls entgegenkamen.
»Na, hat man der Polizei das Auto gestohlen?«, versuchte er zu scherzen, aber die übermüdeten Blicke der Polizisten brachten ihn zum Verstummen.
»Die sind oben noch nicht fertig mit der Spurensicherung«, sagte Zaugg, »also haben wir uns schon mal auf den Weg gemacht.«
Der Tritt der beiden war kürzer und bedächtiger, also schloss sich Müller ihnen an.
»Der Täter soll Kontakt gesucht haben?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage.
»Na ja, so klar ist die Sache nicht. Es hat jemand in Bern angerufen und gesagt, er wisse etwas über die beiden Morde.«
»Was ist daran unklar?«, hakte Müller nach.
Blaser setzte ihm die Lage auseinander. »Offenbar wollte jemand die Polizei benachrichtigen, ohne Hinweise auf seine Identität zu hinterlassen.«
»Das könnte auch bedeuten, dass jemand Spuren bewusst setzen will, um die Untersuchung in eine bestimmte Richtung zu lenken«, gab der Detektiv zu bedenken. »Wie ist es denn abgelaufen?«
»Genaueres wissen wir noch nicht. Aber es ist klar, dass uns der Mörder nicht einfach einen Brief schreiben kann, höchstens an einem
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