Heinrich Mueller 04 - Gnadenbrot
nur noch eine Hand mit Lederhandschuh zu sehen war.
»Manchmal ergibt das Fehlen von etwas einen Hinweis auf seine Existenz«, sagte der Störfahnder.
»Das ist genauso kryptisch wie meine Theorie von vorhin«, reklamierte Heinrich.
»Wart’s ab«, sagte Bernhard und ließ den Ausschnitt rückwärts laufen, bis er ein befriedigendes Standbild fand. »Es muss dieser Mensch gewesen sein …«
»Mann«, korrigierte Leonie, »Frauen waren nur im Lager erwünscht.«
»Mensch«, wiederholte Spring. Und wirklich ließ sich nur feststellen, dass die Person eine Hose mit je einem Beinling in Schwarz und Weiß sowie ein rotes Kapuzengewand trug, eine Mischung zwischen Fribourg und Schwyz.
»Beutekleider«, erklärte Spring. »Aus verschiedenen Beständen geklaut, deshalb fällt die Figur auf, sonst wäre ich allenfalls gar nicht draufgekommen.«
Nicole meldete sich erstmals zu Wort: »Alle Körperteile durch Kleidung abgedeckt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, und genau zum Zeitpunkt der Schussabgabe der Pulverdampf. Danach der Kameraschwenk, sodass die Person verschwindet.«
»Als ob der Regisseur davon gewusst hätte«, überlegte Spring.
»Nimmt mich deine Folgerung aus der Schusslinie?«, fragte Heinrich.
»In Bezug auf den Regisseur: Ja. In Bezug auf den Schützen: Nein.«
Heinrich hatte sein Fahrrad aus dem Keller geholt und fuhr über Land, um den Kopf auszulüften. Unterwegs hielt er an und ließ sich auf das Grasband entlang eines Kornfelds fallen. Im schwachen Wind schlugen die Ähren auf den Getreidehalmen aneinander und sirrten um die Wette mit ein paar Korn raubenden Vögeln, die einander über den Reifegrad informierten. Es hätte idyllisch sein können, doch unter all den lieblichen hohen Tönen brummte ein dunkles Geräusch unbekannter Herkunft, ein Luftzug, der das Feld wie eine Höhle im Sturm nahm, ein aufgeblasener Mund, der die Luft aus zusammengepressten Lippen stemmte.
Müller legte sich auf den Boden und erwartete aus dem Untergrund weiteren Lärm zu hören. Aber die ungestüme Jagd zog über seinen Kopf hinweg und nahm die Furcht mit sich, nicht ohne ein letztes Geflüster im Ohr des Detektivs, einen Satz, der nur die Botschaft der Dringlichkeit mitführte. Benommen von der Wucht wirbelnder Winde gab Heinrich nach, erhob sich auf alle viere und schüttelte das verwirrte Haar, bevor er sich zurück zu seinem Fahrrad begab und nach Hause zurückkehrte.
In seinem Zimmer legte er eine Michael-Nyman-CD ein und ließ sich von der geheimnisvollen Musik hinwegtragen, bei der ein Hammerklavier und treibende Geigen ein paar Bläser vor sich her jagten, eine unkontrollierte Flucht über Wiesen und Felder, unterbrochen von lieblichem Geigengeflüster, bevor die Melodie der Klarinette die Leitung des wilden Umzugs übernahm und immer schneller wurde. ›Chasing Sheep is Best Left to Shepherds‹ – Schafe treiben überlässt man am besten den Schäfern.
Baron Biber schnurrte an seiner Seite.
Sonntag, 28. Juni 2009
Die Abteilung Leib & Leben der Police Bern war eigentlich gar nicht zuständig für die Ermittlungen im Mordfall Thomas Däppen. Der Tatort lag auf dem Gebiet des Kantons Fribourg. Aber die technischen Möglichkeiten der örtlichen Polizei waren begrenzt, ein kleiner Kanton brachte nicht dieselben Mittel auf wie der Kanton Bern, der direkt an die Gemeinde Murten angrenzte. Schon in den Burgunderkriegen wurde das Städtchen von den Berner Truppen verteidigt, und sowohl Regisseur als auch Geldgeber sowie die meisten Schauspieler und Statisten kamen aus dem Bernbiet. Deshalb überließ man die Ermittlungen gerne der dortigen Polizei.
Die Personalsituation hatte sich allerdings in den letzten Jahren eher verschärft als entspannt, sodass Bernhard Spring froh war, als ihm die Detektei Müller & Himmel ihre uneingeschränkte Unterstützung anbot. Der Störfahnder fuhr mit seiner Assistentin Pascale Meyer in den Westen von Bern, wo Thomas Däppen im ländlichen Entwicklungsgebiet jenseits des neuen, von Daniel Libeskind gebauten Einkaufstempels Westside einen Teil eines umgebauten Bauernhofs bewohnte. Man hatte in den Umkleideräumen beim Filmset die Schlüssel zur Wohnung sicherstellen können. Andernorts hätte man Däppens Appartement als Loft bezeichnet. Hier war es schlicht eine ausgebaute Heubühne, geräumig, alle Seiten offen, ein Junggesellentraum für finanzkräftige Männer.
»Es gibt keinen Abonnenten mehr unter dieser Nummer«, sagte Pascale, als sie den Speicher des
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