Heiraten für Turnschuhträgerinnen
schon, einfach mal so in den Berlin-Warszawa-Express zu steigen, denn ich hatte Olga und den Rest meiner polnischen Verwandtschaft lange nicht gesehen – um genau zu sein, seit ungefähr anderthalb Jahrzehnten. Aber ich mochte Olga, zumindest hatte ich sie gemocht, als wir noch Kinder waren. Damals waren wir sie immer zu Ostern besuchen gefahren. Sie war der erste Mensch, mit dem ich mir eine Kussszene im Fernsehen anschauen konnte, ohne mir die Augen zuzuhalten. Und sie hat mir mit den Hello-Kitty-Sachen, die ihr meine Mutter mitgebracht hatte, das Schminken beigebracht. Jetzt war sie anscheinend Filialleiterin bei Douglas in Warschau, mehr wusste ich nicht von ihr. Wir kamen am Bahnhof an, mieteten einen Wagen und fuhren hinauf zur Masurischen Seenplatte. Was wir dann erlebten, war …
Wie soll ich sagen …
Mag sein, dass meine Befremdung daher kam, dass es meine erste Hochzeit war, aber es war …
Also gut: Auf dem Zimmer des Luxushotels, das selbstverständlich vom Vater der Braut bezahlt wurde, lagen kleine Willkommens-Briefchen bereit, in Pastellgrün und Pastellblau. Auf den Kopfkissen warteten pastellgrüne Schächtelchen, die mit pastellblauem Geschenkband verschnürt waren, die Zuckermandeln darin waren pastellgrünund – Überraschung! – pastellblau. Der Shuttlebus zu dem Schiff, auf dem die Trauung stattfinden sollte, war mit Schleifchen geschmückt, und zwar in – genau. Die Menschen, die in dem Bus saßen, kannte ich nicht, bis auf ganz wenige Ausnahmen. Meine polnische Verwandtschaft ist sehr groß und über den halben Erdball verstreut, der Mann neben mir war irgendein Onkel aus dem anderen Zweig der Familie, er war extra aus Amerika angereist, wie er erklärte. Seine Schwester lebe in Frankreich, die Kinder in England.
»Und die sind alle extra zur Hochzeit angereist?«
Zufällig sprach er ein bisschen Deutsch.
»Ja, ja, natürlich, natürlich.«
»Scheinbar hat euer Zweig der Familie mehr Talent darin, mit der Verwandtschaft Kontakt zu halten«, sagte ich.
»Ach, nein! Nein, nein! Kein Kontakt. Why do you think I moved as far away as America?« Er lachte meckernd.
»Warum bist du denn dann da?«
»Hey! Ist polnische Hochzeit, nicht?«
Und dann erklärte er: In Polen werde der Verwandtschaftsbegriff sehr weit gefasst, eingeladen würden alle, auch Großcousins und deren Großneffen, und Erscheinen sei Ehrensache. Außerdem wolle er sehen, wie fett seine Schwestern geworden seien.
Das Schiff, auf dem die Hochzeit stattfinden sollte, war ein Dampfer aus dem 19. Jahrhundert, der mit hellblauen Blumen geschmückt war. Meine alte Tante Wanda, Olgas Mutter, teilte Papiersonnenschirme und Fächer aus. Auf den Fächern waren Informationen zur Zeremonie abgedruckt, in jener seltsamen Sprache, die fast ausschließlich aus den Konsonanten z, ż, ź, ś, y, w und ł zusammengesetzt war und die ich nicht verstand. Immerhin kapierte ich, was die Papiersonnenschirme sollten, als der Dampfer sichlangsam in Bewegung setzte und wir mitten auf dem See waren. Es war Hochsommer, und die Luft über der Wasserfläche fühlte sich wie in einem Dampfbad an. Zu Füßen der Gäste bildeten sich kleine Pfützen; der Sekt, der ausgeschenkt wurde, war binnen weniger Sekunden warm. Meine Mutter fotografierte mich dabei, wie ich mir verstohlen mit einem Deo-Tuch in den Ausschnitt und unter die Achseln ging. Sie fotografierte Georg, als er sich mit der Rückseite seiner Krawatte über die Stirn wischte. Sie fotografierte alles, auch meinen Vater, der sich mit geschlossenen Augen an eine Stahlwand drückte, die ein paar Zentimeter Schatten warf. Dann erklang der Hochzeitsmarsch von Felix Mendelssohn Bartholdy, und aus den Untiefen des Schiffes tauchte am Arm von Onkel Paweł meine Cousine auf. Olga sah stolz aus in ihrem Sahnetortentraum mit der Zwei-Meter-Schleppe. Das Glitzerzeugs auf dem Kleid tat in den Augen weh. Ihr Gesicht war in einen zuckerwatteartigen Schleier gehüllt. Andrzej, der Bräutigam, der sie gemeinsam mit dem Kapitän am Bug des Schiffes erwartete, machte ein Gesicht wie Adam Carrington aus dem Denver-Clan und sah wie ein Arschloch aus. Es war grässlich. Es war wunderschön. Ich fing sofort an zu heulen und hörte nicht mehr auf. Und das, obwohl die Zeremonie eine ganze Dreiviertelstunde dauerte und ich kein einziges Wort verstand. Georg kümmerte sich rührend um mich, er reichte mir Taschentücher und Getränke und fächelte mir liebevoll frische Luft zu, trotzdem sah ich ihm an, dass er
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