Heiraten für Turnschuhträgerinnen
keine gute Laune mehr bekommen will. Wahrscheinlich empfände er das als Verrat an seinen Gefühlen.
»Hast du vielleicht eine andere Idee?«
Georg sieht mich an und seufzt.
»Na gut, meinetwegen. Ruf ihn an.«
Großartig, jetzt tut er so, als sei es ein großer Gnadenakt von ihm, sich helfen zu lassen.
Es klingelt lange, bis mein Vater endlich ans Telefon geht. Er ist blendend gelaunt und erzählt, dass er mit Mama und den Links bereits seit zwei Stunden auf der Terrasse sitze – wo wir denn blieben? Im Hintergrund höre ich Gelächter, dann Gläserklirren. Ich erkläre ihm die Lage und frage ihn, ob er uns helfen könne.
»Nein«, sagt er.
»Aber Papa, wir stecken fest!«
»Ich kann trotzdem nicht kommen.«
»Warum denn nicht?«
»Na, die haben uns gerade die vierte Flasche Wein gebracht!«
»Ja, und?«
»Ich bin völlig betrunken!«
O weh. Wenn mein Vater zugibt, betrunken zu sein, muss es schlimm um ihn stehen.
»Was ist mit Georgs Eltern?«
»Rudi und Gisela? Die würden sogar als Fußgänger den Führerschein verlieren!«
»Und Mama?«
»Ewa würde ich nicht einmal mehr in ein Kinderkarussell setzen.«
Im Hintergrund ertönt schallendes Lachen, dann schon wieder Gläserklirren. Ich will gerade noch sagen, dass es in diesem Falle sein könnte, dass es bei uns ein bisschen später wird, aber da hat Papa bereits aufgelegt.
Es ist stockdunkel, als wir endlich auf den Parkplatz von Klein Schönhagen biegen. In den letzten Stunden hatGeorg kein Wort mit mir gesprochen – nicht, während wir auf die Polizei gewartet haben, nicht, als ich versuchte, die Beamten mit allem Charme davon abzubringen, uns eine Verwarnung zu verpassen, nicht, als ich den Bußgeldbescheid trotzdem in den Händen hielt. Er stand die ganze Zeit einfach nur unbeteiligt daneben und tat so, als müsse er eine Verkehrszählung durchführen. Und als ich vorhin meine Hand auf seine gelegt habe, hat er sie weggezogen, unter dem Vorwand, er müsse die Lüftung aufdrehen.
In dem Augenblick habe ich mir nur gewünscht, ihn in den Arm zu nehmen, damit alles wieder gut ist. Aber ich habe es nicht getan, weil ich Angst hatte, dass alles nur noch schlimmer wird.
Georg bringt den Wagen zum Stehen, wir steigen aus, immer noch schweigend. Er macht den Kofferraum auf, und ich helfe ihm, unser Gepäck herauszuheben. Ich sehe ihm in die Augen, doch er weicht meinem Blick aus. Verdammt. Wir wollen morgen heiraten, doch ich fühle mich, als würden wir kurz vor der Scheidung stehen. Ich muss irgendetwas tun oder sagen, aber ich habe keine Ahnung, wie ich diese Scheißsituation auflösen soll. Eigentlich wäre mir danach, heulend wegzulaufen, aber was, wenn er mir nicht folgt?
Georg schließt den Kofferraum, und ich nehme all meinen Mut zusammen. Ich fühle mich, als würde ich ohne Schutzweste vor ein Maschinengewehr springen, als ich krächze:
»Georg … liebst du mich?«
Georg hebt den Blick und sieht mich an und … irgendetwas passiert mit ihm. Er atmet heftig, sein Kinn beginnt zu zucken. Der Kleidersack mit unseren Hochzeitsklamotten, den er eben noch in der Hand hatte, fällt zu Boden.Ich schließe die Augen und habe nur einen Gedanken: Bitte nicht. Bitte, bitte sag jetzt nichts Falsches .
Ich spüre seine Hand auf meiner Schulter, spüre, wie er mich zu sich zieht, wie er mich umarmt, wie sein Körper zu beben beginnt.
»Du musst doch nicht weinen«, quieke ich entsetzt. Gleichzeitig spüre ich, wie sich auch meine Tränendrüsen in Aufstellung bringen. Dass ich immer sofort mitheulen muss, wenn jemand weint! Herrje!
Georg lässt mich los, und ich wische ihm panisch die Tränen aus dem Gesicht, damit sie ganz schnell wieder verschwinden.
Puh, schon besser.
»Tut mir leid, Lotte. Es tut mir leid, dass ich so gewesen bin. Es ist doch nur … ach, Lotte, ich bin so aufgeregt!«
»Und ich erst«, sage ich leise. »Es ist schrecklich, nicht?«
Er sieht mir in die Augen und fängt an, den Kopf zu schütteln.
»Nein?«, frage ich überrascht.
»Nein! Es ist überhaupt nicht schrecklich. Es ist wunderschön! Schrecklich bin nur ich!«
Augenblicklich fühle ich mich wie ein Stück Butter in der Mikrowelle. Ich schmelze dahin, von innen nach außen, ich will ihm erleichtert in die Arme fallen und komme fast aus dem Gleichgewicht, als Georg plötzlich vor mir auf die Knie sinkt. Ich sehe ihn an, und mir wächst ein Kloß in der Kehle, der binnen weniger Millisekunden auf die Größe eines Rugby-Eis anschwillt. Schlucken hilft kein
Weitere Kostenlose Bücher