Heiß
der Fall«, entgegnete Morgan. »Die wichtigsten Seiten wurden entfernt, sorgsam herausgeschnitten. Der Rest liefert wenige Antworten, sondern wirft über weite Teile nur Fragen auf, beschreibt die Gedanken des Verfassers, aber weniger seine Taten. Es sieht erneut so aus, als sei jemand mit dem Feinkamm durch die Aufzeichnungen gegangen, wie schon bei den Manuskripten der
Sieben Säulen.«
»Hmm …«, brummte der Colonel und schenkte Sherry nach. »Würde dem Service ähnlich sehen … Passen Sie auf, Großhirn, dass Sie nicht zwischen die Fronten geraten.«
Morgans Hand mit dem Glas zitterte leicht, und er fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Dann räusperte er sich, nahm einen Anlauf, räusperte sich nochmals. Endlich entschied er sich dazu, seine Frage zu stellen: »Wer hat Shaw getötet, Sir?«
Der Colonel sagte nichts, trat ans Fenster und blickte hinunter auf die Charles II Street, die nun bereits im Schatten lag. Die ersten Lichter im Theatre Royal gingen an, und zwei große, auf Hochglanz polierte Mercedes-Cabriolets hielten vor den Säulen, um eine Gruppe eleganter Damen mit Stola und Hut aussteigen zu lassen.
»Wenn ich Ihnen das beantworte, dann dürfte ich Sie nicht mehr lebend aus dieser Wohnung lassen«, antwortete Majors schließlich und drehte sich um. Morgan wich seinem Blick aus. »Wie kommen Sie überhaupt darauf?«
Morgan betrachtete angestrengt seine Fußspitzen. »Shaw war ein langjähriger, hervorragender Motorradfahrer und zum Zeitpunkt des Unfalls mit kaum vierzig Meilen auf einer kerzengeraden Straße unterwegs. Das geht aus dem vertraulichen Bericht der Sachverständigen hervor. Die Brough ist bekannt dafür, dass sie knapp zweihundert Spitze läuft. Shaw hätte gar nicht an einem Tag achthundert Kilometer auf englischen Landstraßen zurücklegen können, wenn er nicht schnell gefahren wäre – und die Brough dabei beherrscht hätte. Betrachtet man sich die Schäden am Motorrad, dann sind sie nicht wirklich elementar. Verbogener Lenker, verbeulter Auspuff und Tank, Kratzer und eine verdrehte Felge. Ich habe also keinen Grund, an den vierzig Meilen zu zweifeln. Shaw war für seine Begriffe geradezu gemütlich unterwegs nach Hause, als es geschah. Wegen zwei Radfahrern wäre er nie gestürzt. Also muss jemand nachgeholfen haben.«
»Wenn Sie darüber etwas in Ihrem Bericht schreiben, dann werden Sie nicht lange genug leben, um die Tinte trocknen zu sehen«, stellte Majors mit Nachdruck fest. »Vergessen Sie das alles sofort wieder, wenn es auch gut beobachtet ist und einige der Fakten gewisse Schlussfolgerungen nahelegen. Machen Sie das, was man von Ihnen erwartet – erfassen Sie den Inhalt der Kisten, beschreiben Sie Clouds Hill, aber lassen Sie Ihre literarischen Anwandlungen. Vergessen Sie den Unfall, und hüten Sie sich vor Verdächtigungen, die niemand von Ihnen hören will. Sie sind ein etwas spezieller Buchhalter in diesem Fall, kein Wahrsager oder Detektiv. Lassen Sie niemanden vermuten, dass Sie weiter denken können als bis zum nächsten Zahltag. Sonst findet man in diesem riesigen Empire rascher einen Posten als Fußabstreifer in den Bergen von Burma für Sie, als Sie packen können. Und zwar mit einem One-Way-Ticket.«
Morgan starrte schweigend in den großen Kamin, in dem drei dicke Scheite auf den nächsten Herbst warteten. Schließlich nickte er. »Sie haben sicher recht, Sir, und ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren Rat.« Er verbeugte sich ein wenig linkisch und streckte Majors die Hand hin. »Auf Wiedersehen, Sir, und bitte behalten Sie unsere Unterhaltung für sich. Danke für den Sherry. Ich finde hinaus, bemühen Sie sich nicht.«
Als Majors die Wohnungstür zuschlagen hörte, atmete er auf und lehnte sich gegen das hohe Bücherregal, das bis auf den letzten Zentimeter gefüllt war. Er zog den Webley 38 er unter seinem Jackett hervor und legte ihn achtlos auf eine der Bücherreihen ins Regal, bevor er zum Tisch hinüberging und sich eine weitere großzügige Portion Sherry eingoss. Dann prostete er sich im großen, geschliffenen Spiegel schweigend zu. Der gute Morgan … Schlauer als ein Fuchs, mit einem unbestechlichen Auge für Zusammenhänge.
Und trotzdem – wen kümmerte es schon, wer Shaw zu Boden geschickt hatte?
Die Zeit war knapp geworden, und Special Branch hatte auf eine Lösung gedrängt, vor allem nach Shaws ersten Kontakten mit den englischen Faschisten. Nach dem Anruf des Postbeamten hatte alles schnell gehen müssen. Zum Glück
Weitere Kostenlose Bücher