Heißes Blut: Anthologie (German Edition)
ihn hin und strich ihm mit einer Hand über das Haar. »Bitte lass mich dir doch helfen. Was kann ich tun?«
Samuel hob den Kopf, und sie erschrak, als sie das gelbe Glühen in seinen Augen sah. Er stieß nur ein einziges Wort hervor, das sich jedoch schon beinahe wie ein Knurren anhörte: »Lauf!«
Sein Gesicht – oh, Gott … sein Gesicht veränderte sich!
Jenny wich zurück, erst einen Schritt, dann zwei. Sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Sein Haar wurde struppiger und verlängerte sich; sein Gesicht verzerrte sich, und tiefe Furchen erschienen, wo vorher keine gewesen waren. Seine Lippen veränderten ihre Form, zogen sich so weit zurück, dass seine Zähne sichtbar wurden, und plötzlich schimmerten … Reißzähne im Schein des Mondes.
Jenny wirbelte herum und rannte los. Wurzeln schossen hoch, um sie ins Straucheln zu bringen, und von allen Bäumen schlugen ihr Zweige und Äste ins Gesicht. Nicht sicher, welchen Weg sie einschlagen sollte, stürmte sie blindlings durch den Wald und dachte an nichts anderes als an Flucht. Sie wusste nicht, ob er – oder es – sie verfolgte, aber sie hatte das Gefühl, dass es so war. Ein kalter Schauder nach dem anderen jagte ihr über den Rücken, und ihr Nacken kribbelte, als sich die feinen Härchen daran sträubten.
In welcher Richtung lag die Straße? Gott, wo zum Teufel stand der Wagen? Hatte Samuel die Schlüssel stecken lassen?
Ihr Fuß verfing sich in einer Wurzel, und sie stürzte mit dem Gesicht voran zu Boden. Als sie hastig versuchte, sich wieder aufzurappeln, hörte sie ein leises Knurren hinter sich.
»Oh Gott!« Sie rollte sich auf den Rücken und sah ihn: einen riesigen schwarzen Wolf, der mit weit gespreizten Vorderbeinen und gebeugten Hinterläufen, in Angriffshaltung also und bereit, sie anzuspringen, vor ihr stand. Mit gefletschten Zähnen starrte er sie aus seinen gelben Augen an.
Ohne den Blick von dem Wolf abzuwenden, ließ sie tastend eine Hand über den Boden gleiten, und ihre Finger schlossen sich um einen Stock. Sie hob ihn hoch, und an seinem geringen Gewicht erkannte sie, was für eine armselige Waffe er gegen ein solch mächtiges Tier abgeben würde.
Und dann veränderte der Wolf plötzlich die Haltung, erhob den Blick und schien irgendetwas hinter Jenny anzusehen.
»Geh!«, sagte eine Frauenstimme. »Oya befiehlt es! Geh!«
Der Wolf spitzte die Ohren, dann machte er plötzlich einen Satz und lief mit geschmeidigen Bewegungen in den Wald hinein.
Erst da wagte Jenny, sich umzudrehen und die Frau anzuschauen, die hinter ihr stand. Es war Mamma Louisa, und sie sah aus wie eine Stammesgottheit. Sie hielt etwas in einer Hand, einen prall gefüllten roten Beutel, dessen Durchziehband mit Federn und Steinen geschmückt war.
»Kommen Sie, Kind! Stehen Sie auf! Wir sind hier nicht sicher, auch jetzt noch nicht.«
Jenny beeilte sich zu gehorchen, während Mamma Louisa den Blick über die Bäume ringsum gleiten ließ und den roten Beutel wie eine Waffe hochhielt. Als Jenny neben sie trat, drehte sie sich um. »Hier entlang.«
Sie folgte der Frau in Weiß über einen Pfad, der sich durch den Wald und dann am Fluss entlangschlängelte, und fragte sich, wo sie hingehen mochten, bis sie nicht weit vor ihnen die einladenden Lichter in den Fenstern des Herrenhauses der Plantage sah. Mamma Louisa führte sie zielsicher zum hinteren Teil des Hauses, durch die Küchentür und über die Dienstbotentreppe in den zweiten Stock hinauf. Als sie eins der Zimmer dort oben betraten, fand sich Jenny in einem gemütlichen Wohnraum wieder. Dunkelbraune Rattanmöbel mit bunten Kissen luden zum Sitzen ein, und an einer Wand stand eine mit einem farbenfrohen Tuch bedeckte Hartholzkommode, deren gesamte Oberfläche mit faszinierenden Gegenständen – Statuen, Steinen und Kreuzen – bedeckt war. In der Mitte zwischen alldem befand sich eine Art Schrein mit einer dunkelhäutigen Madonna.
»Setzen Sie sich, Kind«, sagte Mamma Louisa und zeigte mit dem Kopf auf einen der bequem aussehenden Sessel. Dann schloss sie die Zimmertür ab, bevor sie wieder zu Jenny zurückkam, um sie besorgt zu mustern. »Sind Sie verletzt?«, fragte sie.
»Nein, ich glaube nicht.«
Trotzdem untersuchte die Voodoopriesterin sie. Nichts schien ihren scharfen Augen zu entgehen, als sie die Hände zunächst über Jennys nackte Arme gleiten ließ, bevor sie ihren Nacken und ihre Ohren untersuchte. Schließlich kniete sie sich hin und inspizierte genauso gründlich Jennys Beine
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