Heldenklingen
Dabei übersahen sie oft die Grenzen seiner Autorität. Vor allem das Wetter setzte sich gern über Befehle hinweg. Und dann musste man auch noch die politischen Hintergründe berücksichtigen, die Launen des Monarchen und die Stimmung in der Öffentlichkeit. Zudem gab es eine Vielzahl logistischer Bedenken, die Schwierigkeiten bei Nachschub, Transport, Nachrichtenübermittlung und Disziplin. Je größer das Heer war, desto unbeweglicher war es in der Regel auch. Wenn man es wie durch ein Wunder einmal schaffte, diese ungebärdige Masse in eine Position zu bringen, aus der heraus man auch wirklich kämpfen konnte, dann war das Hauptquartier gewöhnlich weit hinter den Linien, und selbst von einem guten Aussichtspunkt konnte der Befehlshaber oft nicht alles sehen – wenn überhaupt etwas. Befehle brauchten eine halbe Stunde oder länger, bis sie ihre Empfänger erreichten und waren bis dahin oft sinnlos oder sogar gefährlich. Wenn sie überhaupt ankamen.
Je höher man in der Befehlskette stand, desto mehr Glieder lagen zwischen den Offizieren und der blanken Klinge, und desto schwieriger wurde die Kommunikation. Desto eher machten Feigheit, Unbeherrschtheit und Unfähigkeit oft die besten Pläne zunichte; als besonders zerstörerisch erwiesen sich zudem gute Absichten. Je mehr das Glück eine Rolle spielte, desto wahrscheinlicher war es, dass man gar keins hatte. Bei jeder Beförderung hatte Marschall Kroy darauf gehofft, endlich die Fesseln abzustreifen und allmächtig agieren zu können. Und nach jeder Beförderung hatte er festgestellt, dass er machtloser dastand als zuvor.
»Ich bin wie ein blinder Idiot, der sich auf ein Duell eingelassen hat«, brummte er. Nur, dass jetzt viele Tausend Leben von seinem ahnungslosen Herumtasten abhingen, nicht nur sein eigenes.
»Hätten Sie vielleicht gern einen Schluck Branntwein mit Wasser, Herr Mar…«
»Nein, hätte ich verdammt noch mal nicht gern!«, fauchte er seine Ordonnanz an und verzog das Gesicht, als der Mann mit der Flasche erschreckt zurücktrat. Wie hätte er erklären können, dass ihm der Alkohol am Vortag so willkommen gewesen war, nachdem er erfahren hatte, dass er für den Tod von vielen Hundert Männern verantwortlich war, dass ihm heute aber der bloße Gedanke an Branntwein mit Wasser Übelkeit verursachte?
Dass seine Tochter beschlossen hatte, sich so nahe an vorderster Front aufzuhalten, machte die Sache nicht besser. Er merkte, dass er sein Fernglas wieder und wieder nach Osten richtete und durch den Regen den Gasthof zu erspähen versuchte, den Meed als Hauptquartier gewählt hatte. Unglücklich kratzte er sich an der Wange. Er war beim Rasieren gestört worden, als eine bedenkliche Nachricht des Hundsmanns eintraf: Der Kundschafter hatte entdeckt, dass Wilde aus den Ländern jenseits der Crinna im Osten über Land zogen. Und Männer, die der Hundsmann als Wilde bezeichnete, waren vermutlich wirklich wild. Kroy war von daher gründlich abgelenkt, und dazu kam, dass sein Gesicht auf der einen Seite glatt und auf der anderen stopplig war. Kleinigkeiten wie diese brachten ihn immer aus dem Tritt. Ein Heer besteht aus solchen Kleinigkeiten wie ein Haus aus Steinen. Ein einziger schlecht vermauerter Stein, und das Ganze bricht zusammen. Aber andererseits selbst zu überprüfen, dass jeder Stein perfekt gelegt wird …
»Ha«, brummte er vor sich hin. »Ich bin ein verdammter Maurer.«
»Dem letzten Bericht zufolge, den Meed geschickt hat, läuft rechts von uns alles bestens«, sagte Felnigg, der offenbar versuchte, seine Befürchtungen zu zerstreuen. Sein Stabschef kannte ihn einfach zu gut. »Sie haben den südlichen Teil von Osrung besetzt und rücken nun gegen die Brücke vor.«
»Also war vor einer halben Stunde dort alles bestens?«
»So gut man es sich nur wünschen kann, Herr Marschall.«
»Das ist wahr.« Er blickte noch kurz durch das Fernrohr, konnte aber kaum den Gasthof ausmachen, von Osrung gar nicht zu reden. Es half nichts, wenn er sich Sorgen machte. Wäre sein ganzes Heer so mutig und einfallsreich wie seine Tochter, wäre der Krieg schon längst gewonnen und sie alle wieder auf dem Weg nach Hause. Beinahe taten ihm die Nordmänner leid, die Finree über den Weg laufen mochten, wenn sie schlechter Laune war. Nun richtete er das Fernrohr nach Westen und folgte dem Flusslauf, bis er die Alte Brücke sah.
Oder zumindest das, was er dafür hielt. Da war eine blasse, gerade, helle Linie über der blassen, gebogenen, dunklen Linie,
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