Heldensabbat
sie.
»Was hältst du davon?«
»Nicht wenig –«
»Aber?«
»So nicht, Stefan«, erklärt sie.
»Wie denn?«
»Wenn du das nicht weißt«, antwortet Claudia, »dann ist es noch zu früh für uns.« Sein Mund ist verkniffen. Auf seiner Stirn stehen Dackelfalten. Claudia lacht, lehnt sich an ihn. »Nicht böse sein, Stefan.«
Der Ordinarius, der seine Eltern früh verloren hat, will unter Ausnutzung des freien Tages morgen in aller Frühe zur einzigen Schwester seiner Mutter nach Unterfranken starten. Aber er will es seiner Klasse, von der ihm der Abschied schwer fällt, nicht antun, jetzt schon zu gehen, und hält weiter aus.
Um Mitternacht bittet die Polizei höflich um Minderung der Lautstärke. Kurz danach kommt dem untersetzten, vorlauten Müller II der Einfall mit der Funksendung. Er wickelt ein Taschentuch um die Gabel, springt mit dem imitierten Mikrophon auf den Tisch und brüllt: »Achtung! Meine sehr verehrten Damen und Herren. Sie hören jetzt eine Übertragung aus dem großen Sendesaal der 8 c.« Er beugt sich zu Claudia hinab. »Haben Sie schon mal geküsst, mein Fräulein?«
»Sicher.«
»Darf man fragen, wie oft? Und wen?«
Claudia schüttelt den Kopf, und Müller II geht zu Stefan weiter. »Können Sie mir vielleicht Auskunft geben, mein Herr?«
Die Klasse lacht schallend. Der Primus liegt mit dem Oberkörper verdrossen auf seinen Ellbogen, dreht sich mißmutig um und fährt den Mitschüler an. »Hau bloß ab, Mensch!«
»Heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß …«, keucht Müller prustend in sein Taschentuch.
Die Sache macht den Absolventen Spaß. Manchmal klappt's mit dem Witz, und mitunter geht er auch daneben. Die Lehrer werden parodiert, die Streiche der Schüler aufgewärmt. Wer nicht spricht, muß singen. Vor dem Einzelsingen haben sie alle Angst, und so stottert jeder lieber einen Witz herunter.
Rolf Bertram ist an der Reihe. Er weiß kein Scherzwort. Dann fällt ihm eine politische Pointe ein, die er vor zwei Tagen irgendwo auflas. Alles lacht. Selbst Stefan verzieht den Mund.
In ihrem Freiheitstaumel sind sie bereit, sich an ihrer »Weltanschauung« zu vergreifen. Und ihr Übermut kommt auf Dr. Faber zu, der an diesem Abend beschwingt und gelöst ist, wie selten zuvor. Vielleicht, weil er zu viel getrunken hat. Vielleicht, weil er der einzige Lehrer ist, der zu diesem Abend eingeladen wurde. Und vielleicht, weil er spürt, daß ihn seine Schüler zwar nicht immer begriffen haben, aber trotzdem mögen, und vielleicht noch mehr als das.
Die Stimmung hat den Höhepunkt erreicht. Um die Mitschülerinnen geht es turbulent zu, auch wenn einige Mädchenmuffel in der Ecke sitzen und sich faule Witze erzählen. Braubach, der Farblose, gähnt demonstrativ. Stefan muß sich am Tisch festhalten. Auch die beiden anderen haben eigentlich das Ziel des Abends erreicht. Beschwipst sind sie alle, und keiner macht aus seinem Mund eine Gruft, und so ist das Gespräch mehr laut als klug.
Und da passiert es. Müller II geht plötzlich auf den Assessor zu, baut sich vor ihm auf mit der Miene eines gestrengen Lehrers, der einen unsicheren Schüler examiniert. »Und Sie, Faber«, sagt er und lächelt pfiffig dabei, »Sie definieren mir jetzt den Nationalsozialismus!«
Auf einmal wird es stiller. Ein paar Primaner sehen erschrocken zu Dr. Faber. Rolf Bertram versucht vergeblich, den plumpen Müller wegzuschieben. Andere haben schon so viel getrunken, daß sie den Zwischenfall nicht mehr bemerken. Stefan Hartwig lächelt schadenfroh.
»Nun?« drängt Müller weiter. »Sie haben wohl wieder die Hausaufgabe versäumt!«
Die Frage klingt in Dr. Faber nach. Er zögert. In den letzten Jahren hat er sich an die Vorsicht gewöhnt wie an einen lästigen Regenschirm – aber immer regnet es ja nicht. Er müßte sich jetzt aus der Affäre ziehen. Sicher gelänge ihm das. Aber in diesem Moment ist er einer der Achtzehnjährigen, die einfach über die Strenge schlagen müssen. Das heiße Gefühl enthemmt. Stimmung macht leichtsinnig. Und der Alkohol assistiert ihm dabei ein wenig.
»Der Nationalsozialismus«, antwortet Hans Faber laut und deutlich, »das ist die Erfassung der Arbeitslosen durch die Arbeitsscheuen.«
»Gut gesagt«, erwidert Müller. Vielleicht hat er es gar nicht begriffen. Sicher ist ihm nicht bewußt, daß er den Ordinarius jetzt immer weiter, immer mehr in das Verhängnis hineinreitet. Rede und Gegenrede sind so schnell, daß das Gelächter erst mit der Schlußpointe kommt,
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