Heldensabbat
wieder flott. Dann hauen wir ab durch die Nacht und die Mitte nach hinten.«
»Kinderspiel«, entgegnet Schulz und verzieht das Gesicht, als hätte er in einen faulen Apfel gebissen; aber als Hauptmann Faber fünfzehn Freiwillige für seine Expedition zwischen den Linien sucht, ist er der erste, der sich meldet.
»Ich muß leider auf Sie verzichten, Schulz«, sagt der Offizier, und das bedeutet, daß der Oberfeldwebel den Rest der Kampfgruppe zur Auffangstellung zurückführen soll, falls dem Chef etwas zustößt.
Es macht die Situation des Angeklagten Dr. Wolfgang Hartwig vor dem Volksgerichtshof in Berlin nicht günstiger, daß der lange Schatten von Stalingrad auf sie fällt. Wenn auch die meisten Deutschen eine Woche vor Weihnachten 1942 das volle Ausmaß der Tragödie noch nicht erfasst haben, so merken sie doch, daß die lauten Sondermeldungen verstummen und die Radiohörer auf den Ernst der Situation eingestimmt werden.
Der Vorsitzende, ein Kammergerichtsrat, hat gleich zu Beginn der Verhandlung festgestellt, daß er sich wegen des schicksalsschweren Geschehens dieser Tage forensische Mätzchen verbitte. Neben ihm betätigen sich als Richter ein zweiter Jurist, ein Polizeipräsident und höherer SS-Führer, ein Ministerialrat und ein Parteifunktionär. Die Anklage vertritt Reichsanwalt Rindsfell persönlich. Sein Verhalten läßt vom ersten Moment an erkennen, daß es nicht darum geht, eine Tat abzuwägen, sondern einen Lebenslauf zu verurteilen: die Vita eines Mannes, der sein religiöses Gewissen über die braune Bewegung gestellt hat.
Es ist die Fleißarbeit von Schurken wie dem Zyniker Panofsky, dem Kriecher Bruckmann, dem Schergen Glühlein, dem Fanatiker Eisenfuß sowie von ehrenamtlichen, wenn auch nicht ehrenwerten Gestapo-Spitzeln wie Dr. Fibig, dem sehr praktischen Arzt, dem Postinspektor Reblein und einigen anderen. Das Delikt des Angeklagten besteht im Grunde nur darin, daß er kein Nationalsozialist ist. Daraus versuchen die Parteischranzen von Mainbach ein Kapitalverbrechen zu machen.
Die Verhandlung über Leben und Tod beginnt um 9 Uhr. Am gleichen Vormittag soll noch über zwei weitere Fälle befunden werden. Dem Angeklagten mit dem eingefallenen Gesicht, einem Schwerkranken, der mit unmenschlicher Anstrengung vor seiner Frau zu verbergen sucht, wie schlecht es auch gesundheitlich um ihn steht, haben sich dreiundzwanzig Leumundszeugen zur Verfügung gestellt, aber es besteht kaum eine Chance, daß auch nur einer von ihnen gehört wird.
Die Fragen zur Person sind abgeschlossen.
Dann tritt Lilo Gürtler als Belastungszeugin auf, die Sekretärin, die nach Meinung Dr. Hartwigs mit ihren frischen Wangen und weißen Zähnen so richtig das Allgäu verkörpert. Sie ist blaß, und ihre weißen Zähne sieht man nicht, weil sie den Mund kaum öffnet und sich so schwer verständlich ausdrückt, daß ihr der Vorsitzende immer wieder die gleichen Fragen stellen muß.
Die zwanzigjährige Parteiangestellte – bei ihrer Dienststelle so unbeliebt, daß sie sich freiwillig zum Osteinsatz gemeldet hat – hinterläßt keinen guten Eindruck. Sie wirkt unsicher, fahrig, wagt den Angeklagten nicht anzusehen, flüchtet in Erinnerungslücken. Es ist etwas anderes, ob man – noch dazu angestiftet von einer Freundin – die Aussage in das Polizeiprotokoll diktiert oder Aug' in Aug' mit dem Angeklagten und seiner Frau sie ihm ins Gesicht sagen muß, und das weiß selbst die naive Parteiangestellte, die den Betroffenen mit Sicherheit den Kopf kosten wird.
Die Zeugin ist nicht in der Lage, den Wortlaut der inkriminierten Bemerkungen des Angeklagten zu wiederholen. Der Verteidiger hakt ein. Dem Ankläger gleitet das Verfahren zunehmend aus der Hand.
»Fräulein Gürtler«, sagt der Vorsitzende beinahe väterlich, »etwas genauer müssen Sie sich schon erinnern. Stimmt nun, was Sie vor der Polizei ausgesagt haben oder was Sie hier im Gerichtssaal vorbringen?«
»Ich – ich kann es wirklich nicht mehr genau sagen«, stottert Lilo Gürtler.
Die Frau des Angeklagten fährt vom Stuhl hoch. »Aber ich«, sagt Marie-Luise Hartwig. »Ich kann es Ihnen genau sagen, Herr Vorsitzender.«
Sie wird zur Ordnung gerufen, aber es läßt sich nicht vermeiden, daß man sie der Kronzeugin der Anklage gegenüberstellt. Jetzt werden die Aussagen Lilo Gürtlers noch blasser und verworrener. Sie schüttelt den Kopf, sieht hilfesuchend zu dem Reichsanwalt Rindsfell.
Die Kronzeugin ist umgefallen. Es ist die klassische
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