Heldensabbat
Ausgangsposition für den Freispruch. Tatsächlich unterbricht der Vorsitzende für zehn Minuten die Sitzung.
Rindsfell nimmt Lilo Gürtler im Nebenzimmer ins Gebet. Als die Verhandlung fortgesetzt wird, wirkt sie wie ein aufgezogenes Uhrwerk, kann sich auf einmal so genau entsinnen, daß sie den Widerruf widerruft. Damit ist der Fall gelaufen und der Angeklagte erledigt.
Der Verteidiger hat seine Erfahrungen – er streckt als erster die Waffen. Als er vom Vorsitzenden aufgefordert wird, sich zu einem bestimmten Vorgang zu äußern, erwidert Dr. Schneider: »Sie haben ja die Akten, Herr Kammergerichtsrat.«
An seiner Stelle tritt Marie-Luise Hartwig an den Reichsanwalt heran, in der Hand Dutzende von Briefen, aus denen hervorgeht, wie patriotisch ihr Mann immer eingestellt war.
»Lassen Sie das, lassen Sie das!« wimmelt sie der Ankläger ab. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Frau Hartwig wird bei der Urteilsverkündung ausgeschlossen, sie muß draußen vor der Tür warten.
»… hat der Sechste Senat des Volksgerichtshofs auf Grund der Hauptverhandlung für recht erkannt«, verliest der Kammergerichtsrat. »Der Angeklagte Hartwig hat im Familienkreis, jedoch im Beisein einer fremden Zeugin, Äußerungen getan, die geeignet waren, den Willen des deutschen Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen. Er wird deshalb wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode und zu lebenslangem Ehrverlust verurteilt. Er trägt auch die Kosten des Verfahrens.«
Im Urteil anerkennen die Richter sogar, daß der Angeklagte sich als Soldat bewährt hat und in uneigennütziger Weise für die vom Krieg betroffenen Volksgenossen eingetreten ist: »So hat er sechs zum Wehrdienst einberufene Berufskameraden vertreten und fortgesetzt Angehörige von Soldaten beraten, die ihm zum Teil durch die NSV zugewiesen waren, beides ohne Entschädigung zu verlangen. Da er infolge dieser Überbeanspruchung oft Nächte hindurch arbeiten mußte, war er wiederholt einer nervösen Erschöpfung nahe. Von Personen, die den Angeklagten kennen, so unter anderem von dem früheren Landgerichtspräsidenten und dem Präsidenten der Anwaltskammer in Mainbach, wird er als ein jederzeit vaterlandsliebender Mann geschildert …«
Wie wenig Bedeutung der 6. Senat des Volksgerichtshofes diesen entlastenden Aussagen beimisst, wird sofort im nächsten Absatz kenntlich. »Diese Verdienste und günstigen Umstände konnten jedoch«, so heißt es, »nach der Auffassung des Senats nicht dazu führen, die Tat des Angeklagten als minder schweren Fall zu beurteilen. Die Reden des Angeklagten, insbesondere seine Äußerungen über das Dritte Reich und die Beschimpfung des Führers, wiegen außerordentlich schwer. Zum Schutz der kämpfenden Front und der schwerem Feindterror ausgesetzten Heimat mußte daher die ganze Schärfe des Gesetzes gegen den Angeklagten zur Anwendung kommen. Es wurde mithin die Todesstrafe gegen ihn für notwendig und angemessen erachtet.«
Inzwischen hat Marie-Luise Hartwig erfahren, daß ihr Mann zum Tod verurteilt wurde. »Ihr Mörder!« schreit sie am Eingang zum Gerichtssaal. »Ihr Mörder!«
»Mörder! Mörder!« schallt das Echo über den Gang, und die Bediensteten fahren erschrocken auseinander.
Der Verurteilte wird gefesselt abgeführt und in die Vollzugsanstalt Brandenburg an der Havel verlegt. Während er auf den Henker wartet, kämpfen Freunde und Bekannte weiter, um den Verurteilten zu retten, aber sie rennen gegen eine Betonwand der Unbarmherzigkeit. Am Portal von Mainbachs Hotel »National« wirft sich die kleine Adele in BDM-Uniform vor dem Kreisleiter Eisenfuß und dem Gauleiter Wächtler auf die Knie und bittet schluchzend: »Herr Gauleiter, bitte geben Sie mir meinen Vati zurück.«
Der dicke Hoheitsträger gibt sich gerührt. »Ja, geh nur nach Hause, Kind, es kommt alles wieder in Ordnung«, vertröstet er Hartwigs kleine Tochter.
Längst haben er und Eisenfuß dem Justizministerium mitgeteilt, daß sich die örtliche Parteileitung einem Gnadenerweis mit allen Mitteln widersetze.
Nebelschwaden hüllen Hauptmann Faber und seine Leute ein, als sie sich durch die Senke tasten. Die Milchsuppe ist gut, weil sie von den Russen nicht gesehen werden, und schlecht, weil sie ihre Verwundeten nur schwer finden können. Auf einmal wächst Unteroffizier Nützel, einer der Versprengten, aus dem Boden. »Gott sei Dank«, sagt er. »Die Russen sind auf der anderen Seite – ich hab' 'nen Streifschuß und völlig die Orientierung
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