Heldensabbat
noch vor Tagesanbruch die deutsche Auffangstellung zu erreichen. Von hier aus sind es noch 20 Kilometer zu einem vorgeschobenen Feldlazarett, das vielleicht aber schon nach hinten verlegt hat. Erleichtert stellt der Oberfeldwebel fest, daß die umgebaute Feldscheune noch voll in Betrieb ist.
In seinem durchbluteten Ärztekittel wirkt der operierende Unterarzt – höchstens fünf Semester Medizin, dann ab in die Feldmetzgerlehre – wie ein Lohnschlächter, aber er leistet, ganz auf sich und fünf Sanitäter gestellt, Unmenschliches. Die linke Ecke der Scheune stellt eine Art OP-Raum dar: wackeliger Tisch, übereinander gestapelte Kisten, eine verlauste Decke als Sichtblende. Der Unterarzt greift sich den nächsten.
»Morphium gleich alle«, meldet ein Sani-Unteroffizier. Der Mediziner scheint es nicht zu hören. »Schafft Schnaps her«, sagt er, »und Antineuralgietabletten.«
Leutnant Hartwig erfaßt jede Einzelheit ganz klar und auch, daß der Schwerverletzte neben ihm jetzt wieder bei Bewußtsein ist. »Wir haben es geschafft, Hans«, raunt er dem Freund zu.
»Sie sollen nicht reden«, schnauzt ihn der Unterarzt an.
Stefan greift nach Fabers Hand. »Und danke, Hans«, sagt er. »Danke für alles, für –« Er spricht nicht mehr weiter, aber alles, was er sagen will, liegt im Druck seiner Hand, geht von einem Körper auf den anderen über, und Stefan erkennt sogar eine Art Lächeln im Gesicht des verehrten Lehrers, des bewunderten Kommandeurs, des großartigen Freundes. Hans lächelt wie die Tote aus der Seine, denkt Stefan und erschrickt. Aber er lebt doch noch! Hans muß leben, muß am Leben bleiben, schon für Sibylle und den Kleinen, für Tante Gunda, für ihn!
Stefan läßt seine Hand nicht aus – bis sie kalt und starr wird und er weggezerrt wird, hinter den Verschlag, und Schnaps mit Tabletten schlucken muß, jede Menge, und dann mit dem Perkussionshammer k.o. geschlagen wird, Narkose, Rußland, Dezember 1942.
Stefan Hartwig liegt im Koma, weit weg von allem, sogar von Hans Faber, den sie hinaustragen und auf den Stapel Toter legen. Sie operieren ein Geschoß aus dem Körper des Verwundeten, das dicht an der Leber sitzt, ziehen ein halbes Dutzend Splitter aus Rücken und Armen. Vor den Russen wurde der Leutnant gerettet, aber noch lange nicht vor der Infektion.
Als Stefan Hartwig zu sich kommt, sind die Russen wieder da. Partisanen. Den Unteroffizier haben sie als ersten erschlagen. Angestauter Haß entlädt sich. Jetzt haben sie den Unterarzt in Arbeit. Der Mediziner brüllt mit verdrehten Augen. Die Russen stecken einen Fuß in die Schlinge und ziehen ihn zum Dachbalken hoch. Das Gesicht des Mißhandelten schwillt an, als müßte es platzen, der Mediziner schreit nicht mehr, er stöhnt nur noch.
Ein bärtiger Hinterhaltkämpfer kommt von draußen, ruft den anderen in gutturalen Lauten etwas zu; er treibt sie offensichtlich zur Eile an, und Stefan rechnet sich eine Chance aus, die Schlinge gleich um den Hals zu bekommen und nicht verkehrt herum aufgehängt und weiß Gott wie lange gequält zu werden.
Er stirbt wiederum nicht.
Überfallartig dringt ein deutscher Stoßtrupp in die Scheune ein und erledigt die Partisanen mit einigen Feuerstößen. Es geschieht schnell, rationell, ohne Sadismus, doch mit Überzeugung. Der Anführer des Stoßtrupps, ein Leutnant, der aussieht wie ein bulliges Kraftpaket, schneidet den Mediziner ab, stellt ihn auf die Beine, rüttelt ihn rasch wieder ins Bewußtsein zurück.
Als wäre nichts geschehen, nimmt der Unterarzt sofort seine Arbeit wieder auf, deutet auf Stefan und einige andere. »Die müssen sofort nach hinten geschafft und versorgt werden«, sagt er.
»Wird erledigt«, erwidert der Stoßtruppführer.
Stefan erlebt die erste und wirkungsvollste Begegnung mit Leutnant Kalle Klett, genannt Bongo, und sehr bald wird er feststellen, daß er am gleichen Tag einen Freund verloren und einen anderen gewonnen hat.
Meistens ist es soweit, wenn die Sonne genau über der Havel steht. Der Henker und seine Gehilfen müssen aus Berlin anreisen und in der Garage der Strafanstalt Brandenburg die Hinrichtungsmaschine aufbauen. Der Scharfrichter, steuerlich als freier Unternehmer eingestuft, arbeitet rationell und pünktlich. Seine Humanität ist die Geschwindigkeit. Er ist ein wohlhabender Mann. Sein blutiges Handwerk hat einen goldenen Boden: Für jede Enthauptung nimmt er eine Kopfprämie von 300 Reichsmark ein, muß aber seine beiden Gehilfen selbst entlohnen.
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