Heldensabbat
Die Gefängniswärter erhalten pro Hinrichtung eine Sonderzuteilung von acht Zigaretten.
Die hellen Zellen der Todeskandidaten in der Vollzugsanstalt sind ständig überbelegt. Der Neubau ist kalt und seelenlos: Beton, Stahl, Glas und Zwang. Die Gänge hallen. Die Insassen empfinden die mangelnde Geräuschisolierung besonders grausam an den Exekutionstagen. Sie stehen dann in den Zellen und halten den Atem an. Sowie mit einem knallenden Geräusch die Holzpantinen zu Boden fallen, hat es wieder einer in der Garage überstanden. In dem Moment, in dem das Fallbeil fällt und den Kopf des Delinquenten vom Rumpf trennt, zieht der Hingerichtete noch einmal in einem Reflex krampfhaft die Beine an und streckt sie dann ruckartig aus, wobei die Holzpantinen mit einem Schwung gegen die gegenüberliegende Garagenwand geschleudert werden.
Vom 22. August 1940 bis Kriegsende werden hier zweitausendundzweiundvierzig Menschen hingerichtet, eintausendachthundertsieben als Opfer ihrer politischen oder religiösen Überzeugung. Ein Delinquent ist blind, zwei sind oberschenkelamputiert. Zu den Exekutierten gehören allein in diesem Jahr vierzehn Ehepaare; sie haben keine Erlaubnis erhalten, sich vor dem Vollzug der ›ernstesten staatlichen Hoheitsbetätigung‹ noch einmal zu sehen und sich voneinander zu verabschieden.
Dr. Wolf Hartwig kauert in seiner 8 Quadratmeter großen Zelle. Seit seiner Einlieferung hat er hier dreihundertneunzehn Tage verbracht, ohne Gewißheit, den jeweils nächsten noch zu erleben. Vor drei Wochen hat ihn seine Frau Marie-Luise zum vierzehnten und letzten Mal besucht. Seitdem erhielt sie keine Sprecherlaubnis mehr. Während sich der Verurteilte mit dem Tod abgefunden hat, sich aber immer noch nicht ganz der Hoffnung begibt, es könne noch ein Wunder geschehen, versuchen seine Angehörigen, seine Freunde und sogar einige seiner Gegner, das Schlimmste zu verhindern. Die Familie schaltet einen Philharmoniker ein, der einst den Kindern des früheren Reichsjugendführers und jetzigen Gauleiters von Wien Musikunterricht gegeben hat. Vielleicht zieht sich deshalb für den Einsamen das Warten auf den Tod so grausam in die Länge.
Es ist für den Verurteilten ein bitterer Triumph, daß sich der militärische Niedergang, den er immer vorausgesehen hat, seit der Katastrophe von Stalingrad in einem ungeheuren Tempo beschleunigt hat. Nachrichten über die militärische Lage erreichen die Gefängnisinsassen zwar meistens verspätet, kommen aber doch durch. Sie wissen, daß es nach dem Untergang der 6. Armee an der Wolga schon dreieinhalb Monate später in Nordafrika zur Katastrophe in der Wüste gekommen war: Tunisgrad. Die Operation Zitadelle, die deutsche Sommeroffensive bei Kursk, mußte nach bescheidenen Anfangserfolgen abgebrochen werden.
Hamburg erlebte ab dem 24. Juli 1943 die Operation Gomorrha, einen Vernichtungsangriff aus der Luft: Fast fünfzigtausend Menschen, unter ihnen siebentausend Kinder, kamen um, vierzigtausend wurden verletzt, zweihundertachtzigtausend Häuser und neunzehn Fabriken zerstört, die Hafenanlagen beschädigt. Und das war nur das Zeichen an der Ruinenwand für einen Luftterror, der bald apokalyptische Ausmaße annehmen sollte.
Die Anglo-Amerikaner landeten in Sizilien. Der faschistische Großrat setzte in Rom den Diktator Mussolini ab, der Duce wurde verhaftet. Die Sowjets eroberten Charkow, die Anglo-Amerikaner Neapel. Italien erklärte Deutschland den Krieg, die Sowjets nahmen das Donez-Becken und später Kiew. Die Reichshauptstadt lag im Bombenhagel.
Wenn vor den Zellentüren in der Mittagszeit Schritte verharren, wissen die Häftlinge in den Todeszellen nicht, ob das Essen ausgegeben oder ihnen mitgeteilt wird, daß die Hinrichtung heute Nachmittag stattfindet. Einen Moment lang hofft Dr. Hartwig zugleich gefaßt wie verzweifelt, daß die Schritte weitergehen. Als die Zelle aufgesperrt und der Direktor mit ernstem Gesicht in der Tür steht, weiß er, daß ein Gnadenerweis abgelehnt worden ist und er bestenfalls noch zwei Stunden zu leben hat.
Er wird gefesselt, mit Stahlschellen an den Handgelenken muß er den Abschiedsbrief an seine Angehörigen schreiben, muß er essen, muß er beten. Die Todeskandidaten werden nicht einzeln in die Garage geführt. Sie haben geschlossen im Gefängnishof anzutreten, sich in einer Reihe aufzustellen und Jacke und Hemd auszuziehen. Mit Kopierstift schreibt ein Gehilfe des Henkers dann die Platzziffer auf die Brust und die Stirn: zweimal die
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