Heldensabbat
überalterten Schulordnung interessieren ihn nicht.
Und trotzdem steckt hinter einer Handbewegung von ihm mehr Autorität als hinter den endlosen Quengeleien mancher anderer Lehrkräfte.
Schüler suchen immer etwas an ihrem Lehrer, beobachten scharf und unbarmherzig, geben treffsichere Spitznamen. Dr. Faber hat es noch nicht soweit gebracht. Sie konnten ihm lediglich nachreden, er sei ein Bücherwurm – bis zu dem Tag, da er zufällig während einer Turnstunde an der Sandgrube auf dem Hof vorbeiging. Die Klasse hatte gerade Leichtathletik, und der vorlaute Müller II rief Dr. Faber zu: »Hallo, Herr Assessor, können Sie das auch?« Er deutete auf die Hochsprunglatte.
»Schriftlicher Verweis!« sagte der Turnlehrer zu Müller II.
Dr. Faber grinste nur. Dann stellte er die Schnur von 1 Meter 25 auf 1 Meter 50, nahm einen knappen Anlauf und setzte in voller Kleidung hinüber. Er schüttelte den Sand aus den Halbschuhen und sagte freundlich-gleichmütig zur verblüfften Klasse einschließlich Turnlehrer: »Es geht noch einigermaßen.«
Auf dem Stundenplan steht Deutsch. Die Klasse wirkt erleichtert, die Klingel hat gerade die unbeliebte Griechischstunde beendet, und Mathematik gibt es erst wieder morgen. Das leichte Summen erstirbt unter der Hand von Dr. Faber. »Tell«, sagt er ruhig. »Geßler-Szene.«
Der Primaner Stefan Hartwig ist unkonzentriert. Wie nie sonst. Er betrachtet flüchtig den Assessor. Dann starrt er wieder auf den Punkt, den er seit zehn Minuten nicht aus den Augen läßt. Ohne zu wissen, warum.
Ohne die Möglichkeit, den Blick abzuwenden.
Er sieht in den Nacken eines Mädchens. Das Mädchen heißt Claudia. Sie ist siebzehn Jahre alt, ein halbes Jahr jünger als Stefan. Und sie sitzt in der Bank vor ihm. Seit beinahe acht Jahren gehen sie nun schon in eine Klasse. Und so lange sitzt Claudia vor Stefan. Sie teilten gelegentlich ihr Frühstücksbrot, ab und zu schrieb sie von ihm ab. Sie waren burschikos zueinander, unbefangen.
Diesen Nacken kennt Stefan genauso lange wie das Mädchen. Er sah weiße und rote Schleifen in den Haaren wippen. Er sah sie mit Zöpfen, mit einem Knoten. Ungefähr alle zwei Jahre wechselte die Frisur. Zuletzt zu einem blonden Bubikopf, der in einer weichen Rolle endet. Und unter dieser Rolle, ganz tief, fast am Ansatz des Kleides, schimmert blonder Flaum. Dieser Flaum ist es, der ihn in den Bann zwingt, der seine Augen plötzlich darüber streichen läßt, der ihm auf einmal den Mund austrocknet, seine Backen erhitzt und ihn Dr. Faber vergessen läßt.
Verdammt, denkt er, was ist denn los? Er sah Claudia vor wenigen Tagen während des Fackelzuges zum Domplatz. Sie unterhielten sich sogar miteinander. Er sagte: »Servus, Claudia«, und sie erwiderte: »Tag, Stefan.«
Sie nickten sich lächelnd zu. Das war alles.
Aber jetzt spürt er ihre Nähe wie nie zuvor, und er hat die Augen eines in eine Grube gefallenen jungen Tieres.
Ihm wird heiß. Ihm wird kalt. Und auch in seinem Genick rührt sich etwas, ein Kribbeln, das das ganze Rückgrat entlangläuft, bis in die Zehenspitzen, bis in die Finger. Und diese Finger werden unruhig, spielen jetzt mit dem Füllfederhalter. Dann mit einem Heft. Und zuletzt reißt Stefan ein leeres Blatt aus diesem Heft, kritzelt etwas darauf, faltet es zusammen, schiebt es vorsichtig nach vorne, als Dr. Faber gerade wegsieht.
Er hört es knistern, als sie es entfaltet. Und in ihm knistert die Spannung. Dann wendet sie sich langsam nach ihm um. Ihre Augen sind blau, in der Iris des einen schimmert ein grünlicher Fleck. Um ihre Lippen spielt ein Lächeln, halb fragend, halb belustigt.
Was fällt dir auf einmal ein? scheint es auszudrücken. Aber Stefan Hartwig kümmert sich nicht um die Frage, sondern um die Lippen, die er auch zum ersten Mal richtig sieht. Und es beunruhigt ihn noch mehr, daß sie so sind, wie sie sind.
Claudia hat den Zettel gelesen.
»Wollen wir uns heute Abend treffen?« steht darauf. »Ich hole dich ab. Um acht Uhr.«
In diesem Moment wird Stefan von Dr. Faber aufgerufen. Sein Name wuchtet wie ein Gongschlag in sein Bewußtsein.
»Hartwig!«
Er schrickt zusammen, fährt hoch, sieht nach vorne zu Dr. Faber. Krampfhaft versucht er, seine Gedanken zu sammeln, sich an den Inhalt des Unterrichts, der bisher nur als Geräuschkulisse an seine Ohren drang, zu erinnern.
Es geht um das Schillersche Drama »Wilhelm Teil«, um seine sittlich-moralische Auslegung.
Dr. Faber übergeht die Verwirrung seines Primus.
»Wäre
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