Heldensabbat
Stefan so hinein, daß er den kleinen, unauffälligen Braubach fast überfährt. Dieser Mitschüler ist der Klassenschlechteste; er hat wenig Chancen, die Reifeprüfung zu bestehen. Sicher kommt er deshalb gerade aus dem Haus des Studienprofessors Pfeiffer, der vor zwei Jahren sein Ordinarius gewesen war. Der Alt-Pg wird in der Prüfungskommission sitzen, die das Abitur abnimmt. Kein Wunder, daß Braubach jetzt um den Einflußreichen herumscharwenzelt.
»Servus, Richard«, begrüßt ihn der Primus. »Du kommst wohl vom Pfeiffer?«
»Ja«, erwidert der Schmächtige. »Nachhilfeunterricht – kann ja nicht schaden.« Er lächelt bekümmert.
»Na, ich halt' dir die Daumen«, sagt Stefan. »Glück brauchst du schon mit deinen drei Fünfen.«
»Können ja nicht alle so gut sein wie du«, versetzt Braubach schnippisch. Es ist ein Maximum an Meinungsäußerung, denn dieser Mitschüler gilt als besonders farblos, in der Schule, privat und sogar beim HJ-Dienst.
Stefan fährt weiter, mit den Gedanken jetzt bei den Kandidaten der 8 c. Braubach ist der gefährdetste, doch auch Rainer Ramm und Ferdinand Grube haben ihre Sorgen. Auch Benno Metzger ist nicht gerade ein glänzender Kandidat. Claudia wird das Abi spielend schaffen. Stefan hat sie in letzter Zeit kaum gesehen, auch sie büffelt, aber für die gemeinsame Siegesfeier hinterher hat er ganz konkrete Vorstellungen. In drei Monaten kommt für sie alle die Stunde der Wahrheit, und zur Zeit steht die Reifeprüfung im Brennpunkt ihres Lebens, mehr als diese Meldungen über ständige Ausschreitungen der Polen an den Volksdeutschen.
Mindestens fünf Minuten nehmen sie in jeder Nachrichtensendung ein, und in den Zeitungen füllen ihre Verbrechen an den Wehrlosen Spalten. Adolf Hitlers Geduld scheint endlos zu sein, aber er scheut auch nicht den Krieg. Doch die Kandidaten sorgen sich im Moment mehr um die Fünf in Mathe oder Latein und darum, wie sie ihren Notendurchschnitt verbessern können, als um den gefährdeten Frieden. Großdeutschland ist ein autoritärer Führungsstaat, und wer an der Spitze stehen will, wo auch immer, muß etwas leisten, muß eine anständige Platzziffer vorweisen können.
Und dann kommt Stefans größter Tag. Zum ersten Mal seit drei Wochen schlüpft er wieder in seine eingemottete Uniform; am Vorabend des Bannsportfestes wird er an die Front gerufen.
Unter einem Trommelwirbel verleiht ihm Martin Greifer mit erhobener Stimme die Ehrenkordel der HJ. »Du hast sie verdient, Stefan«, sagt er. »Du bist der beste Führer meines Banns, und ich sage dir hier, vor versammelter Mannschaft, eine große Zukunft voraus.« Er reicht Stefan die Hand.
Die Trommeln wirbeln wieder, als der Ausgezeichnete zurückgeht und sich an der Spitze seines Fähnleins einreiht.
Im letzten Moment war Jungzugführer Rolf Bertram zu der Einheit gestoßen. »Gratuliere«, sagt er zu Stefan. »War ganz sicher, daß du die Treppe hinauffallen wirst – aber so bald schon?«
»Danke«, erwidert Stefan. »Wie geht es dir?«
»Gut.«
»Gibt's was Neues?«
»Allerdings«, entgegnet der Junge. »Aber das erfährst du noch früh genug.«
»Stillgestanden!« kommt das Kommando aus dem Lautsprecher. »Ich melde den Gebietsführer.«
1200 Jungen hauen die Hacken zusammen, Statisten des zackigen NS-Rituals, dem sie sich willig unterwerfen, bevor sie sich in die Startlöcher ducken.
Die Abreise von der Blumenriviera erschien Sibylle und Hans Faber wie die Vertreibung aus dem Paradies. Die Wirtin der ›Villa Teresina‹ begleitete sie von Spotorno bis nach Savona und überreichte dort den Verlobten noch ein dickes Proviantpaket, bevor die beiden mit dem Zug nach Brixen, dem vereinbarten Treffpunkt mit der KdF-Reisegruppe, weiterfahren. In Südtirol, dem einzigen Land, das der Führer nicht heimholen will ins Reich, ist die letzte Übernachtung der Italienfahrer eingeplant.
Der Bus hat zwei Stunden Verspätung. Arm in Arm bummeln die Liebenden durch das von sanften Hängen und steilen Bergen umgebene Städtchen mit den großartigen Barockfassaden und den herrlichen Laubengängen. Sie besuchen den Dom aus dem 15. Jahrhundert, und dann fragt sich Sibylle zielstrebig nach dem Postamt durch. Sie zeigt ihren Ausweis am Schalter vor und verlangt ›posta restante‹.
Tatsächlich ist für sie postlagernd ein Telegramm eingegangen: »Herzlichen Glückwunsch. Erwarte Dich und Deinen Verlobten in München, Hotel Bayerischer Hof. Gruß Mutter.«
»Was sagst du jetzt, Hans?« fragt
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