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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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ein gespenstisches Geschöpf hervor, und bei ihm zweifelte Namakan keinen Wimpernschlag daran, dass es sich um eine Elfe handelte. Sie war gewiss noch zweieinhalb Köpfe größer als Dalarr, und ihr Kopf ruhte auf einem Hals, der zu lang und zu zerbrechlich für diese Last schien. Alles an ihren Proportionen wirkte, als hätte ein kindlicher Gott erst einen gewöhnlichen großen Menschen aus Ton erschaffen wollen und sich dann aus einer Laune heraus dazu entschieden, überall an seiner Puppe zu ziehen, wo seine Fingerspitzen Halt fanden: an den Armen und Beinen, an den Fingern, am Haar und an den Ohren.
    Was in Namakans Geist nun unaufhaltsam aufstieg wie das kochende Wasser aus den heißen Quellen des Schwarzen Hains, war keineswegs die unbändige Erregung, die Dalarr erwähnt hatte. Dieses Gefühl war nicht einmal ein entfernter Verwandter dieser wilden Fleischeslust. Es entstammte einer vollkommen anderen, düstereren Sippe. Trauer. Niederschmetternde, entwaffnende Trauer wie die, die er wegen des Verlusts seiner Lieben empfand.
    Und wie hätte er bei dem Anblick Nimarisawis auch etwas anderes fühlen können? Die Elfe ging bucklig auf einen Stock aus weißem, knorrigem Holz gestützt. Ihr Haar, das ihr Haupt einst voll und schimmernd umflossen hatte wie Quecksilber, fiel ihr in dünnen Strähnen ins Gesicht, die die öde Farbe von Raureif auf grauem Fels besaßen. Die aschfahle Haut auf ihren hohen Wangen war ein zerklüftetes Auf und Ab von Pocken und Kratern. Über ihren tief in die Höhlen gesunkenen Augen lag ein gelblicher Schleier, und so war es fast ein Wunder, dass sie erkannte, wer da vor ihr stand.
    »Dalarr?« Ihre Stimme war das Knistern von Eis auf einem zugefrorenen See. »Bist du es?«
    »Ja.« Dalarr eilte zu ihr wie ein Sohn an das Totenbett seiner Mutter. Sanft nahm er eine Hand der Elfe in seine und hauchte einen Kuss darauf. »Ja, ich bin es.«
    »Sie muss tausend Sommer gesehen haben«, flüsterte Morritbi ergriffen und packte Namakans Hand fester.
    »Ja.« Namakan konnte die Augen nicht von der uralten Elfe lassen. »Aber heißt es nicht, die Elfen blieben auf ewig jung?«
    »Nicht alle Legenden sind wahr, mein Junge«, raunte Ammorna, doch auch ihr war ihre Betroffenheit deutlich anzuhören.
    »Du kennst diesen Menschen, Nan?«, fragte die Elfe, die keine Elfe war, voller Unglaube.
    »Wie kann ich ihn nicht kennen?« Nimarisawi zupfte spielerisch an Dalarrs Bart. »Verzeihst du meiner Tochter? Ist Tschumilal nicht zu jung, um zu begreifen, was es bedeutet, alte Freunde zu haben?«
    »Es gibt nichts, was ich ihr verzeihen müsste«, erwiderte Dalarr.
    »Zeigt Dalarr att Situr sich nicht großmütig?«, wandte sich Nimarisawi an ihre Tochter.
    »Ist Großmut nicht dankenswert?«, gab Tschumilal zurück und schlang sich wie als Zeichen ihrer Demut den Bogen über die Schulter.
    »Du hast dich verändert«, sagte Dalarr vorsichtig.
    »Verändert?« Nimarisawis Lachen war Wind, der durch Risse in Gletschern pfiff. »Und was ist mit dir? Ist dein Bart nicht grau?«
    Nicht so grau wie noch vor ein paar Tagen, dachte Namakan. Wie lange ist es wohl her, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hat?
    »Weiß ich nicht, warum ich alt bin?« Nimarisawi reckte den Hals, um Dalarr näher zu mustern. »Doch warum bist du alt geworden? Hast du etwa Wurzeln geschlagen?«
    »Ja, aber sie wurden mir ausgerissen, und so hat mich die Zeit aus ihrer Umarmung entlassen«, antwortete Dalarr. »Du weißt, wie es bei einem Tegin ist.«
    »Wovon redet dein Meister da?«, wollte Kjell wissen.
    Namakan zuckte nur mit den Achseln. Die leise Bewegung reichte aus, um Nimarisawis Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das Klacken ihres Stocks hallte durch den Saal, als sie auf ihn zu humpelte.
    Sie sieht mich genauso an, wie mich ihre Tochter angesehen hat. Namakan unterdrückte den Reiz, rasch an sich herabzublicken, um vielleicht das zu erhaschen, was ihn für die Elfen so interessant machte. Nicht nur für die Elfen. Kongulwafa hat mich auch schon so gemustert. Was sehen sie nur alle in mir? »Ich bin Namakan, der Schüler Dalarrs«, stellte er sich vor, weil ihm das stille Starren dieser zweiten Königin, der er auf seiner Reise nun schon gegenüberstand, unheimlich war. Sie ist gar keine echte Königin, du Dummbatz! Du brauchst nicht gleich wieder stumm zu werden wie ein Fisch. »Ich komme von den Immergrünen Almen.«
    »So? Tust du das?« Nimarisawi neigte bedächtig den Kopf hin und her. »Groß wird man auf den Almen

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