Heldenwinter
Sees entlang, wo Dalarr seine langen Schritte schließlich bremste. »Du hast gesehen, dass ich mit Nimarisawi gesprochen habe.« Er hob einen warnenden Finger. »Leugne es nicht, du Spertill!«
Ja, und ich musste mit ansehen, wie du deinem Freund diesen Dorn in die Brust gestoßen hast, hätte Namakan am liebsten erwidert. Stattdessen nickte er stumm.
Dalarr blieb stehen, bückte sich und hob etwas vom Boden auf. Einen Knochen, so klein und zerbrechlich scheinend, dass er nur von einem der bunten Vögel stammen konnte, die nur noch in seiner und Nimarisawis Erinnerung sangen. »Ich habe getan, was getan werden musste. Ich könnte ein großes Fass aufmachen und behaupten, so hätte ich es Zeit meines Lebens schon immer gehalten. Dann hätte ich es allerdings verdient, dass man mich in diesem Fass ersäuft.« Dalarr brach den Knochen entzwei und warf die beiden Hälften über die Schulter. »Erinnerst du dich noch an den Holzkopf?«
Der Holzkopf? Der Freund von ihm, der Waldur geholfen hat, Arvid auf den Thron zu hieven? »Was ist mit ihm? Du hast doch gesagt, er sei tot.«
»Gewissermaßen stimmt das auch.« Dalarr verzog das Gesicht, als hätte ihm jemand ins Gekröse getreten. »Der Holzkopf, der ich einmal gewesen bin, ist hoffentlich tot und kehrt nie wieder.«
»Du … du warst der Holzkopf?« Namakan schüttelte fassungslos den Kopf. »Aber der Holzkopf war doch dumm und hat sich vor Waldurs Karren spannen lassen wie ein Ochse. Der Holzkopf hat nicht durchschaut, wie Waldur wirklich ist. Und auch nicht, was für ein König Arvid werden würde.«
Dalarrs ohnehin gepeinigte Miene wurde noch grimmiger. »Dann begreifst du vielleicht jetzt, warum ich dir nicht die Wahrheit sagen konnte. Ich bin nicht stolz auf das, was damals geschehen ist. Ich schäme mich dafür, weil ich es hätte verhindern können. Nein, ich hätte es sogar verhindern müssen. Und nur, weil ich damals so dumm gewesen bin, sind jetzt Lodaja und Tschesch und Miska und Wutschak und …« Dalarr beschaute seine Hände, drehte sie hin und her. »Sie alle sind wegen meiner verfluchten Dummheit in der Stillen Leere. Ihr Blut klebt auch an meinen Händen, nicht nur an denen von Waldur und Arvid. Es ist, als hätte ich sie selbst umgebracht.«
Das passt nicht zusammen. Namakan kramte in seinem Gedächtnis nach den Einzelheiten der Geschichte, die ihm Dalarr über die Rolle des Holzkopfs bei Arvids Machtübernahme erzählt hatte. »Du hast gesagt, in der Zeit, in der der Holzkopf auf Waldur hereingefallen ist und Arvid unterstützt hat, hättest du nur Augen für Lodaja gehabt. Was stimmt denn nun?«
»Das eine ist wahr, ohne dass das andere falsch ist«, entgegnete Dalarr. »Es stimmt, dass ich mich habe blenden lassen, und es stimmt auch, dass ich viele schöne Tage damit verbracht habe, mit Arvids Tochter durch die Kissen zu toben.«
»Halt!« Ein Druck breitete sich in Namakans Schädel aus, ein Druck, der nicht von außen, sondern von innen auf ihn einzuwirken schien. »Wieso Arvids Tochter? Warst du Lodaja untreu? Ich verstehe das alles nicht, Meister, tut mir leid.«
»Wir haben dich viel, viel zu behütet aufwachsen lassen.« Dalarr seufzte. »Du bist wie ein Kind, das darüber erschrickt, dass ein Küken aus einem Ei schlüpft. Begreifst du es denn wirklich nicht?«
»Lodaja war doch die Tochter dieses Gräflings«, sagte Namakan. »Und jetzt ist sie mit einem Mal Arvids Tochter. Wie kann ein Mädchen zwei Väter haben?«
»Ach, Junge …« Dalarr legte Namakan eine Hand auf die Schulter. »So, wie ich früher der Holzkopf gewesen bin, war Arvid früher der Gräfling.«
Er hat mich angelogen. Namakan wurden die Knie weich. Er hat mich die ganze Zeit über angelogen.
»Gehen wir noch ein paar Schritte.« Dalarr schob Namakan sanft an. »Ich weiß, wie du dich fühlst. Bewegung wird dir gut tun.«
Namakan setzte schlurfend einen Fuß vor den anderen. Der Druck in seinem Kopf war zu einem Sog aus widerstreitenden Gefühlen geworden, von dem er in eine unbekannte Tiefe gezogen zu werden drohte. Warum hat er mir nicht die Wahrheit gesagt? Warum war er so feige? Ich liebe ihn doch. Er ist der einzige Vater, den ich je hatte. Weshalb die ganzen Täuschungen? Und Lodaja … sie hat auch nur gelogen. All die Sommer. Was hat sie immer gesagt? Ja, dass ihr Vater gestorben ist, als sie noch klein war. Dass sie deshalb wusste, wie es ist, niemanden auf der Welt mehr zu haben. Darum hat sie uns alle bei sich aufgenommen. Warum? Warum wollte
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