Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
Vom Netzwerk:
denen, die er verloren hatte. Wie um ihn besonders zu quälen, stand am Beginn dieser Träume stets ein verheißungsvolles Idyll: Lodaja, die lächelnd einen dampfenden Laib Brot aus dem Ofen holte. Selesa, wie sie lachend die Betten aufschüttelte. Tschesch, der ihm glucksend entgegenrannte, um ihm etwas zu zeigen, das er auf dem Hof gefunden hatte. Dieser gute Anfang endete allerdings jedes Mal in einer grauenhaften Enttäuschung: Lodaja griff beherzt zu einem Messer, aber nicht um duftende Scheiben von dem Laib herunterzuschneiden, sondern sich die Klinge in die eigene Brust zu stoßen. Die Laken auf den Betten, die Selesa aufschüttelte, waren plötzlich von Blut getränkt. Und das, was Tschesch in seinen Stummelfingern hielt, war anstelle eines glänzenden Kiesels ein zerquetschtes Auge.
    Wenn Namakan aus diesen Albträumen aufschreckte – mit pochendem Herzen und Tränen in den Augen –, war er froh, dass er nur die Hand auszustrecken brauchte, um Morritbis Wärme zu spüren. Er wälzte sich dann ganz dicht an die Hexe heran, legte einen Arm um sie und atmete den Duft ihres Haars. Mehr konnte er nicht tun, aber mit jeder weiteren Nacht, die verstrich, brauchte er weniger von diesem süßen Schlafmittel, um zurück in den Schlaf zu finden.
    In einer Nacht, noch inmitten der Bäume des Schwarzen Hains, wurde Namakan vom Rumoren in seinem Gedärm geweckt, und so stand er rasch auf, um weg vom Schein der Glut des herabgebrannten Feuers ein Stück tiefer in den Wald zu hasten. Hinter einer Tanne zog er die Hosen herunter, hockte sich hin und verrichtete seine Notdurft. Danach suchte er etwas, mit dem er sich den Hintern abwischen konnte. Zum Glück fand er in Reichweite seiner kurzen Arme einen Farn, dessen Blätter es ihm ersparten, in höchst unwürdiger Haltung umherzuwatscheln und sich womöglich sogar die Hosen zu verschmieren.
    Als er zum Lager zurückkehrte, stellte er fest, dass außer ihm noch jemand erwacht war: Tschumilal saß im Schneidersitz nah an der Glut, den Kopf nach vorn gebeugt, als studierte sie etwas, was unmittelbar vor ihr im warmen Schein auf dem Waldboden lag. Sie schien keine Notiz von Namakan zu nehmen. Er war bereits auf dem Weg zu seiner Decke, als ihm auffiel, dass sie ein Tier streichelte, das sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte.
    Ist das …? Namakan schaute zu der Stelle, wo leise schnarchend Ammorna schlief. Die Tür des Käfigs, den sie neben ihrem Kopf aufgestellt hatte, stand offen.
    »Du hast ihn aus seinem Käfig geholt«, sagte Namakan halblaut, um die anderen nicht zu wecken. Er zeigte auf Ammorna. »Hat sie dir das erlaubt?«
    Tschumilal blickte von ihrem rätselhaften Treiben auf und streichelte Kjell dabei unbeirrt weiter. »Hätte ich sie um Erlaubnis bitten müssen?« Ihre Stimme, klar und hell, hatte einen verwunderten Unterton. »Tust du immer nur das, was dir erlaubt ist?«
    »Sei leise. Die anderen schlafen«, rügte Namakan sie. Er machte zwei Schritte auf sie zu. »Ich gebe mir jedenfalls Mühe, nichts zu tun, was jemand anderem missfallen könnte.«
    Tschumilal legte den Kopf schief. »Ist das nicht ein trauriges Dasein? Bist du dann nicht ein Sklave der anderen, wenn du deine Bedürfnisse den ihren unterwirfst?«
    Wenn sie doch nur einmal etwas sagen könnte, ohne gleich eine Frage zu stellen! Namakan beschloss, dem sich anbahnenden Streit – denn worauf sonst hätte diese Unterhaltung hinauslaufen sollen? – zuvorzukommen. Er wies auf das, was Tschumilal eben noch so eindringlich gemustert hatte. Es handelte sich um eine Handvoll Steine, keiner größer als ein Taler, die die Elfentochter in einer Art Wellenlinie vor sich ausgelegt hatte. »Was tust du da eigentlich?«
    »Sammle ich Steine?«, gab Tschumilal zurück. »Nicht für jeden Tag unserer Reise einen?«
    Als Namakan begriffen hatte, was sie ihm da mitteilen wollte, fragte er: »Gut. Du sammelst diese Steine. Aber wieso?«
    Tschumilals Worte mochten nie feste Aussagen treffen, doch der Blick, mit dem sie Namakan nun bedachte, tat es umso mehr: Sie hielt ihn unübersehbar für ziemlich dumm. »Muss ich nicht wissen, wo ich gewesen bin, damit ich nichts vergesse, was ich erlebe? Stützen die Steine nicht mein Gedächtnis?«
    In diesem Moment gingen Namakan zwei Dinge auf: Das eine war, dass Tschumilal offenkundig alles daran setzte, einen Streit vom Zaun zu brechen – ganz gleich, wie sehr Namakan sich auch dagegen wehrte oder wie zärtlich ihre Finger auch Kjells Fell zu streicheln

Weitere Kostenlose Bücher