Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
Vom Netzwerk:
schienen. Das andere war die Erkenntnis, dass Tschumilals Vorhaben zwar eine gewisse dichterische Schönheit besaß, aber zugleich kurzsichtig war. »Schon gut, schon gut.« Namakan winkte ab und kehrte zu seiner Decke zurück. Er wickelte sich absichtlich besonders gründlich darin ein, um Tschumilal zu zeigen, dass ihm sein Schlaf wichtiger als ihre Streitlust war. »Sammel du ruhig weiter deine Steine. Aber eines Tages wird dir deine Tasche vor lauter Steinen zu schwer werden. Warte es nur ab.«
    Tschumilal zischte einige barsche Laute, die nichts anderes als eine Verwünschung sein konnten. Das Letzte, was Namakan vom Feuer her hörte, war das sachte Klicken von Stein an Stein, als Tschumilal ihre Erinnerungsstücke entweder wegpackte oder neu sortierte. Dann schlief er ein und blieb für den Rest der Nacht gnädigerweise sowohl von aufwühlenden Träumen als auch von Aufruhr in seinem Gedärm verschont.
    Der Herzfinder führte die Wanderer weiter und weiter nach Süden, vom Rand des Reichs in dessen Kernland. Neben der weichenden Kälte zogen die Wanderer noch einen anderen Gewinn aus ihrer Route: Hatten sie sich im Schwarzen Hain noch über schmale Pfade und bestenfalls notdürftig befestigte Wege vorangekämpft, reisten sie nach zwei Tagesmärschen durch die hügeligen Wiesen über gepflasterte Straßen. Diese waren beileibe nicht alle hervorragend in Schuss, aber sie beschleunigten das Vorankommen dennoch ungemein. Sie passierten auch erste Weiler und andere kleine Ansiedlungen von Lehmhäusern mit grasgedeckten Dächern. Die Viehbauern, die in ihnen lebten, waren ein schweigsamer Menschenschlag mit wettergegerbter Haut und verschlossenen Gesichtern. Sie beäugten die Wanderer misstrauisch und erwiderten Grüße allem Anschein nach nur äußerst widerwillig.
    Namakan wunderte sich nicht sehr darüber. Wir sehen aus wie abgerissene Vagabunden. Die Leute hoffen wahrscheinlich nur, dass wir schnell weiterziehen, ohne sie anzubetteln. Oder auszurauben.
    Über eine Sache staunte er dann doch nicht schlecht: An einer Wegkreuzung war ein steinernes Standbild aufgestellt, das seine Aufmerksamkeit stärker auf sich zog als der hölzerne Wegweiser, der die Entfernung in die nächsten Städte in Tagesmärschen angab.
    Es war eine Statue Arvids, und was Namakan am meisten daran erschütterte, war die Tatsache, dass die Menschen zu seinen Füßen Zeugnisse ihrer Zuneigung und Dankbarkeit hinterlassen hatten: Sträuße von Wildblumen, kleine Schnitzereien von edlen Rössern, Ketten aus Holzperlen und allerlei Tand mehr.
    Namakan musste zugeben, dass Arvids Abbild nicht der Vorstellung entsprach, die er sich vom Herrscher Tristborns bislang gemacht hatte. Der unbekannte Künstler, der den Stein behauen hatte, hatte Arvid eine aufrechte Haltung verliehen, einen Arm dem Betrachter so entgegengestreckt, als wollte der König einem Gestürzten aufhelfen oder einen Verirrten an die Hand nehmen. Die starren Falten seines granitenen Umhangs, der bis zum Podest der Statue hinabreichte, verliehen Arvids Erscheinung eine erhabene Strenge. Sie wurde durch den offenen Blick und das angedeutete Lächeln aufgewogen, das auf den verwitterten Lippen lag.
    Er wirkt nicht wie jemand, vor dem man Angst haben müsste. Respekt ja, aber keine Angst. Wie ein Vater. Als Namakan sich daran erinnerte, dass die Tochter dieses Königs seine Ziehmutter gewesen war, blieb er stehen, um auf Arvids Zügen nach Ähnlichkeiten zu Lodaja zu suchen. Wenn er wirklich so aussieht wie diese Statue, dann haben sie die gleiche Stirn. Hoch und über den Augen leicht gewölbt. Und der Mund … manchmal hat Lodaja so gelächelt. Wenn sie uns Kinder angesehen hat …
    »Geh weiter, du Fifl!«, rief Dalarr, der die Statue keines Blickes gewürdigt hatte.
    Namakan rührte sich nicht. Seine Beine waren ihm mit einem Mal unglaublich schwer.
    »Was hast du?«, fragte ihn nun auch Morritbi, die sich neben ihn stellte und zu der Statue aufsah, als wollte sie versuchen zu begreifen, was ihn so an ihr fesselte.
    »Er sieht gar nicht aus wie ein wahnsinniges Monstrum, das Frauen und Kinder abschlachten lässt«, sagte Namakan vorsichtig. »Er sieht aus wie ein gewöhnlicher Mensch.«
    »So?«, knurrte Dalarr. »Da kann ich Abhilfe schaffen.« In einem plötzlichen Ausbruch seines nur schwer zu bändigenden Zorns zog Dalarr sein Kurzschwert, sprang auf das Podest und hieb mit dem Sporn auf das Antlitz aus Stein ein. Einmal, zweimal, dreimal. Scharfe Splitter spritzten nach

Weitere Kostenlose Bücher