Heldenwinter
Menschen einmal alle hundert Sommer einen kurzen Blick erhaschen. Menschen wie Galt.
Bei den Mot Romir legen wir Zeugnis voreinander ab. Über unsere Errungenschaften, über unsere Fehler, über alles, was man mit stolzgeschwellter Brust vorträgt, und über alles, wobei man lieber das Gesicht vor Scham verhüllt. Früher sind diese Reden nicht einfach verhallt. Es gab einen unter uns, der sie festhielt, und alle begegneten dem Wordur Romir mit einer Achtung, wie man sie unter euch nur den Königen zollt. Ich besuche diese Treffen nicht mehr, seit es keinen Wordur Romir mehr gibt, und dass dem so ist, daran trage ich ein schreckliches Maß an Schuld.
Vielleicht tue ich es zu spät. Viel zu spät. Aber ich will, dass du eine der Geschichten hörst, die man sich unter den Tegin von mir erzählt. Wahrscheinlich ist es die wichtigste Geschichte von allen. Sie beginnt nicht bei meinem letzten Mot Romir. Sie beginnt ein Treffen davor. Ich weiß noch, dass mein Herz vor Freude übervoll war, als ich am Ort der Zusammenkunft eintraf. Ich hatte nur Gutes zu berichten – von einem Frieden, den ich zwischen zwei Stämmen aus dem tiefen Süden gestiftet hatte, den Schneckenessern und den … den … Sieh an, der zweite Name ist mir entfallen. Ausgelöscht.
Wie dem auch sei …
Ich ahnte nicht, dass der Wordur Romir mir eine große Ehre zuteil werden lassen wollte. Er hegte die Absicht, mich zu seinem Nachfolger auszurufen, wie er mir bei einem Gespräch unter vier Augen mitteilte. Ich lehnte ab. Warum? Der Wordur Romir muss jeglicher Gewalt und jedem Verhalten abschwören, in dem er auch nur im Geringsten in die Geschicke der kurzlebigeren Völker eingreift. Und dazu fühlte ich mich schlichtweg noch nicht bereit. Hatte ich nicht eben erst den Beweis dafür angetreten, dass wir Tegin euch vor großem Unheil bewahren konnten? Hatte ich nicht gerade einen Krieg beendet, bei dem Tausenden von Menschen auf den Opfersteinen hüben wie drüben über Generationen hinweg das Herz aus den Leibern gerissen worden war?
Außerdem befürchtete ich, dass in meinem Bruder, der mir viel bedeutete, ein Groll gegen mich gewachsen wäre, wenn ich das Amt übernommen hätte, das mir da angeboten wurde. Mein Bruder … er liebte mich … und wir beide liebten das Abenteuer und die Gefahr. Wie hätte ich das von einer Nacht zur anderen aufgeben können?
Der Wordur Romir war bestürzt über die Zurückweisung, die er von mir erfuhr. Er bettelte mich an, meine Entscheidung zu überdenken. Und so bat ich ihn schließlich, bis zum nächsten Treffen zu warten. Dann, so sagte ich, bekäme er meine endgültige Antwort. Er beherzigte meine Bitte. Lächelnd. Doch ich hätte sehen müssen, dass es ein trauriges Lächeln war.
Ich zog fünfzig weitere Sommer durch die Welt, und ich zwang mich, keinen Gedanken daran zu verschwenden, was mich beim nächsten Mot Romir erwartete. Und wenn mir das einmal nicht gelang, dann redete ich mir ein, ich würde es einfach genauso machen wie beim letzten Mal. Mehr Bedenkzeit erbitten. Das würde schon klappen. Er konnte mich ja schlecht zwingen, ihm im Amt nachzufolgen. Gewalt war ihm ja verboten.
Doch ich täuschte mich. Nicht der Wordur Romir erwartete mich mit seinem Drängen. Meine Mutter trat mir entgegen, das Haupt verschleiert, die Haare geschoren. In ihren Händen hielt sie einen blanken Schädel. Sie weinte nicht, als sie mir sagte, was ihr der Wordur Romir aufgetragen hatte. Ich hätte ihm Weisheit geschenkt. Die Zeiten, in denen die Geschichten der Tegin festgehalten wurden, seien vorüber. Alle Geschichten seien erzählt, weil jede neue Geschichte, die er auf dem letzten Mot Romir gehört hatte, sich so schon Tausende Male zuvor zugetragen hätte. Wir würden nur immer das gleiche Stück aufführen, und nur die Rollen würden darin wechseln. Kein schändlicher Mord und keine ruhmreiche Heldentat, die nicht schon einmal begangen worden war. Keine Entdeckung, die nicht schon einmal einer von uns gemacht hätte. Und kein Frieden, der nicht schon einmal gestiftet worden wäre.
Wir sterben nicht. Nicht von allein. Doch wir kennen Wege, unserem Leben ein Ende zu bereiten.
Alles, worum mich meine Mutter noch ersuchte, war ein Trauerlied für den Wordur Romir zu singen. Ich sang das Lied, und dann floh ich von dem Ort hinter der Welt. Erst danach, als ich meinem Volk den König genommen hatte, weil ich kein König sein wollte, wurde ich der Dunkle Sturm, und wenn du möchtest, kläre ich dich mit Freuden
Weitere Kostenlose Bücher