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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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darüber auf, welche Taten und Untaten ich unter diesem Namen begangen habe. Aber nicht heute … Lass es nicht heute sein …
    Jetzt magst du über mich denken, was du willst, Namakan. Dass ich weiser sein müsste. Dass ich ehrlicher sein müsste. Bei all den Sommern, die ich gesehen habe, sollte ich gelernt haben, zu wem ich Vertrauen fassen kann und zu wem nicht. Und in all dem hast du recht. Aber ich habe dir nun diese Geschichte erzählt, damit ich nicht das schlimme Los teile, das dem Wordur Romir widerfahren ist. Ich will nicht enden wie er. Ich will meinen Sohn nicht verlieren.
    Obwohl es das weichste Kissen auf der ganzen bisherigen Reise war, auf das Namakan in dieser Nacht sein weinschweres Haupt betten durfte, fand er dennoch keinen Schlaf. Er starrte an die Decke und trieb ziellos auf dem aufgewühlten Meer in seinem Innern.
    Er sagt, er liebt mich. Er sagt, ich sei sein Sohn. Aber was kann ich ihm wirklich bedeuten, wenn er für immer weiterleben wird und ich sterben muss? So schnell, dass ich für ihn wie eine Blume bin, die nur einen Sommer blüht. Was kann ihm dann Lodaja bedeuten? Was kann ihm irgendeiner von uns bedeuten? Er wird uns alle vergessen. Erst unsere Namen, dann unsere Gesichter. Und was wäre geschehen, wenn Waldur uns nie gefunden hätte? Er wäre trotzdem nicht bei uns geblieben. Er hätte uns verlassen. Irgendwann … Und er lügt schon wieder. Die ganze Zeit. Er belügt sich selbst. Er meint, er wäre schuld am Tod seines Vaters. Dabei sagt er immer, dass jeder seine eigenen Entscheidungen trifft. Sein Vater hat sich umgebracht, weil er sterben wollte. Weil er es so wollte. Oder ist das auch gelogen? Hat er das nur erzählt, damit ich bei ihm bleibe? Nein, was hätte er davon? Ob Lodaja das alles über ihn gewusst hat? Bestimmt. Und sie hat ihn trotzdem geliebt …
    Neben ihm stöhnte Morritbi, als träumte sie schlecht. Er drehte sich zu ihr und küsste sie sanft auf die glühende Wange.
    »Namakan?«, murmelte sie schlaftrunken und fasste nach seinem Gesicht.
    »Du hast bloß geträumt. Alles ist gut.«
    »Ich vermisse den Wald.« Sie zog seinen Kopf auf ihre Brust. Ihr Herz flatterte wie ein Vogel in einem Käfig. »Ich vermisse die Bäume.«
    »Du wirst sie wiedersehen.«
    »Das weißt du nicht.«
    Die Wehmut in ihrer Stimme war ihm unerträglich. »Warum vermisst du sie denn so sehr?«
    »Sie geben mir Ruhe. Sie sind so alt …«
    »Wie viele Sommer hast du gesehen?«
    »Dein Kopf ist ein Sieb.« Sie seufzte, weil sie nicht wissen konnte, worauf seine Frage abzielte. »Sechzehn.«
    »Dann bin ich doch fast doppelt so alt wie du.« Er rieb seine Nasenspitze an ihrem Nippel, und sie lachte auf, wie er es geplant hatte. Ich weiß, wo man dich kitzeln kann, meine Hexe … »Noch lange nicht so alt wie einer von deinen Bäumen, aber beileibe alt genug für dich.«
    »Es sind nicht nur die Bäume«, gestand sie.
    »Was ist es noch?«
    »Das Feuer …« Sie stockte. »Wenn ich mit dem Feuer spreche … es flüstert mir zu, dass ich nicht weitergehen darf. Dass ich zurück in den Wald soll …«
    »Ich weiß, warum es das sagt.« Namakan wählte einen heiteren Ton, der gar nicht zu dem Schauer passte, der ihm über den nackten Rücken jagte. »Dein blödes Feuer will mich loswerden. Es ist eifersüchtig auf mich.« Er knurrte und wälzte sich auf sie. »Weil ich so heiß auf dich bin!«
    Sein albernes Spiel entlockte Morritbi tatsächlich ein gequetschtes Lachen, und ihm wurde kurz schwindelig vor Freude, dass er einen Weg gefunden hatte, sie zu trösten. Es sollte nicht das letzte Mal in dieser Nacht gewesen sein.
    Bei ihrem Aufbruch am nächsten Morgen herrschte Aufruhr vor dem Gasthaus. Die Tochter des Wirtes – ein blondes, pausbäckiges Mädchen von vier oder fünf Sommern – weinte bitterlich. Sie vergoss ihre Tränen wegen des grausamen Schicksals eines anderen zarten Geschöpfs. Ein Reh war von den Kräutern im kleinen umzäunten Garten neben dem Gasthaus angelockt worden und hatte seinen Kopf durch eine Lücke zwischen den Brettern gesteckt, um an die Leckerbissen heranzukommen. Es hatte ausgiebig an den Pflanzen geknabbert, doch dann musste es bemerkt haben, dass es gefangen war, weil es den Kopf nicht wieder aus der Lücke herausziehen konnte. In seiner Panik hatte es wohl versucht, auf und abzuspringen. Mit furchtbaren Folgen: Ein Nagel, der aus einem der Bretter hervorstand, in dem sein Hals eingequetscht war, hatte dem armen Tier den Hals aufgerissen.
    Namakan

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