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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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zerbrechlich, als wären sie nie dazu geschaffen worden, ein immenses Gewicht zu tragen. Zudem entdeckte Namakan unter den sterblichen Überresten auch solche, die nicht zu einem menschenähnlichen Geschöpf gehört haben konnten: schartige Klauen, gebogen wie Krummsäbel und scheinbar lang genug, um selbst den Himmel damit aufzuschlitzen. Merkwürdige Knochensegel, hoch wie die Wände eines kleinen Hauses, die ungefähr die Form von Pflugscharen hatten. Und Schnäbel … Aberdutzende von Hakenschnäbeln, die ein Pferd mühelos in zwei Teile hätten schneiden können.
    »Vögel«, nahm ihm Morritbi die Worte aus dem Mund. »Die Geister stehen mir bei. Es sind Vögel gewesen.«
    »Falken«, bestätigte Dalarr, und auch in seiner Stimme schwang eine seltene Ehrfurcht mit. »Die großen Falken, die auf der Nadel nisten. Früher, bevor die Tristborner sie zähmten, sind sie hierhergekommen, um zu sterben.« Dalarr schürzte die Lippen. »Das ist lange her …« Er setzte sich wieder in Bewegung. »Kommt! Mir war es hier oben schon immer zu windig.«
    Ihr Abstieg dauerte länger als der Aufstieg, da der Kraterboden deutlich tiefer lag, als seine Wände aufragten.
    Alle schwiegen, bis auf Eisarn. Er redete unablässig auf Dalarr ein. »Ich bin wirklich aus weichem Lehm! Wirklich! Ich hätte dich damals zwingen sollen, die Ketten woanders zu verstecken. Irgendwo, wo es schön ist. Am besten unter der Erde! In der Höhle der Klingenden Steine. In den Traumgrotten. In der Glitzerspalte. Oder meinetwegen auch draußen. Nur eben irgendwo – irgendwo anders! Vielleicht in einem freundlichen Wäldchen, wo die Vöglein zwitschern. Nicht wie hier, wo alles nur hingeht, um zu krepieren! Sogar die Vögel!«
    Dalarr schenkte seinem grummelnden Gefährten keinerlei Beachtung. Unbeirrt hielt er auf ein Ziel zu, das nur er kannte.
    Es stellte sich heraus, dass es in diesem Krater nicht nur Zeugnisse der Vergänglichkeit gab. Mitten auf einer Fläche, die nach Namakans Schätzung ungefähr die Größe des Marktplatzes in Swemmanger hatte und auf der das schwarze Gestein von Wind und Knochenstaub spiegelglatt poliert worden war, stand ein trotziger Torbogen. Er war aus hellen Steinen gemauert, die allem Anschein nach eigens hierhergebracht worden waren. Auf den Steinen prangten Symbole, die Dalarrs Hautschriften ähnelten: Wellen, Kreise, Dreiecke … Es war ein verwirrendes Tor, da es nirgendwo hin zu führen und nirgends Einlass zu erlauben schien. Es war einfach nur ein krudes Halbrund, das leere Luft umspannte, vor dem leere Luft lag und hinter dem auch nichts weiter wartete als leere Luft.
    Ungeachtet dessen hätte der Torbogen ein beruhigender Anblick sein können, insbesondere da Dalarr am Rand der glatten, schwarzen Fläche anhielt. Was konnte das anderes heißen, als dass sie ihr Ziel fast erreicht hatten? Dass der Torbogen keine Erleichterung in Namakan auslöste, lag an einem anderen grausigen Umstand: Überall auf dem dunklen Spiegel rings um das Tor hatten Menschen den Tod gefunden. Dutzende. Von den meisten waren nur noch grinsende Schädel und blanke Knochen übrig. Die anderen, denen die Verwesung noch nicht alles Fleisch geraubt hatte, gaben bereitwillig Aufschluss darüber, dass es kein schnelles, kein leichtes Sterben für sie gewesen war: Dort hatte die ausgezehrte Leiche eines Mannes, der der Federstickerei auf seinem Wams nach zu urteilen ein Schreiber gewesen sein musste, die Hände um den eigenen Hals gekrallt. Hier hatte sich ein stolzer Krieger im vollen Plattenpanzer in seiner Todesqual zu einem Ball zusammengekrümmt, als wäre er eine Raupe, die ein grausames Kind auf einen heißen Ofen geworfen hatte. Unmittelbar vor ihnen war ein Priester im blutroten Kettenhemd eines Stridus-Dieners auf dem Bauch bis an den Rand des blankpolierten Areals gekrochen. Aus dem weitaufgerissenen Mund hing ihm die von seinen eigenen Bissen zerfetzte Zunge. Nichts sprach dafür, dass er weniger Pein erfahren hatte als diejenigen, die näher am Tor ihr Leben ausgehaucht hatten.
    »Was ist mit ihnen geschehen?« Kjell machte einen winzigen Schritt nach vorn, um den Leichnam des Priesters näher in Augenschein zu nehmen. Das tat er jedoch erst, nachdem er sich mit einem Blick nach unten versichert hatte, dass er nicht auf das glatte Schwarz getreten war. »An den Frischeren sehe ich keine Wunden, die sie hätten töten können. Und die Schädel der Älteren sind heil. Was hat sie umgebracht?«
    »Ihre Neugier«, sagte Ammorna

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