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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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wollte schnell an der schrecklichen Szene vorübergehen, doch Ammorna hielt ihn am Kragen fest. »Du hast mich gestern gefragt, ob ich beim Spielen die Zeichen missbrauche, die mir die Gefiederte schickt«, zischte sie. »Das tue ich nicht. Aber das, mein Junge, das da ist ein Omen.«
    »Für uns?«
    »Für wen sonst?«

26
    Warum ringst du in Gedanken beständig mit dem Tod?
    Meinst du nicht, dass der Sieger in diesem Wettstreit von Beginn an feststeht und du ihm einen Triumph nie streitig machen wirst?
    Aus den Zehntausend Fragen auf dem Pfad zur steinernen Gelassenheit
    Je näher der Silvret seiner fernen Mündung kam, desto auffälliger veränderte er die Gestalt seines Laufs. Sie passte sich immer öfter Namakans ursprünglicher Vorstellung an: Der Strom wurde zu einem breiten Band aus silbrigem Wasser, das eine Ufer so weit vom anderen, dass es mehr eine verschwommene Ahnung als eine feste Gewissheit war.
    Fünf Tagesmärsche von Swemmanger erhoben sich inmitten der Fluten die steilen, zerklüfteten Felswände einer großen Insel, auf der das Tal der Elfen gewiss zweimal Platz gefunden hätte. Dank seiner Kindheit auf den Immergünen Almen wusste Namakan genug über Berge, um zu verstehen, dass es sich bei der Insel wohl entweder um den kümmerlichen Stumpf eines ehemals stolzen Gipfels oder den verwitterten Krater eines erloschenen Vulkans handelte. So oder so weckte der Anblick des Eilands in ihm eine sonderbare Regung: eine Art ergriffene Ehrfurcht vor der Macht der Zeit, die irgendwann jeden noch so großen Berg zu Staub zermalmte und jedes noch so heiße Feuer erstickte.
    Er ahnte, dass sie auf diese Insel übersetzen würden, um die Ketten der Ewigkeit aus ihrem Versteck zu holen, und seine Ahnung täuschte ihn nicht. Am Rande eines kleinen Dorfes – eine Handvoll schäbiger Bauten auf morschen Pfählen – fanden sie einen alten Fischer, der bereit war, ihnen seinen Kahn zu überlassen. Nicht gegen schöne Worte, sondern gegen einen geradezu unverschämten Teil des kleinen Vermögens, das Ammorna ihren Opfern im Schluckstorch abgeknöpft hatte. »Ihr wollt zur Insel der Sterbenden Schwingen«, rechtfertigte der nach faulem Fisch und aufgewühltem Schlamm stinkende Mann seine Forderung. »Also sehe ich mein Boot wohl nicht wieder.«
    Der Strom mochte mit seiner Breite prahlen, doch tief war er nicht. Dalarr übernahm die Stakstange, und er führte sie erst etwas ungelenk, aber dann mit einigem Geschick. Er macht das nicht zum ersten Mal, wurde Namakan klar. Aber wahrscheinlich gibt es für jemanden wie ihn, der so lange gelebt hat, nichts mehr, was er zum ersten Mal machen könnte …
    Für Namakan jedoch gab es etwas, das er zum ersten Mal erlebte: Verständnis für Eisarns Gejammer. Während der gesamten Überfahrt – Namakan saß mit Morritbi im Bug, Eisarn kauerte im Heck zu Dalarrs Füßen – malte sich der Zwerg laut und in den schlimmsten Farben aus, wie der durch die Passagiere schwer beladene Kahn kenterte und sie allesamt ertranken. Namakan hegte ähnliche Befürchtungen, da er noch nie einen so breiten Fluss wie den Silvret überquert hatte. Mit seinen kurzen Ruderfahrten auf stillen Bergseen war dieses Übersetzen nun wirklich nicht zu vergleichen.
    Die Untrennbaren hatten Erbarmen und hielten ihre schützenden Hände über die Wanderer: Sie erreichten die Insel letztlich wohlbehalten und landeten an einer kleinen Bucht an, wo der Strom den Fels des toten Berges zu einem schmalen Strand aus grauschwarzem Geröll zerrieben hatte.
    Von dort führte sie Dalarr über die Stiegen eines natürlichen Pfads die nächste Felswand hinauf und schließlich über deren Kante hinweg, wo unerwartet heftige Winde an ihrer Kleidung und an ihrem Haar zerrten. Namakans Einschätzung über das Wesen der Insel erwies sich als zutreffend: Sie befanden sich tatsächlich am Rand eines Vulkankraters. Der Krater war allerdings weder mit brodelndem, geschmolzenem Gestein gefüllt, noch war sein Grund nahtlos mit einer erstarrten Ascheschicht bedeckt.
    Wie ein bleicher, kahler Wald lagen dort drunten gewaltige Gerippe verstreut. An manchen Stellen türmten sie sich zu riesigen beinernen Haufen auf, unter denen das Schwarz des erkalteten Vulkanbluts kaum mehr zu erkennen war. An anderen waren die Knochen größtenteils zu weißem Staub zerfallen, den die Fallwinde in zerfaserten Wolken aufnahmen, zu Kreisen verwirbelten und als rieselnde Schleier wieder freigaben.
    Trotz ihrer Ausmaße wirkten die Gebeine sonderbar

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