Heldenwinter
verstummt war, wagte es Namakan, sich wieder umzudrehen. Tschumilal streichelte die fiepende Ratte, die sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte, und ganz gleich, wie verschlossen ihre Miene auch oft sein mochte, in diesem Augenblick sah Namakan in ihren Zügen eine tiefe Zuneigung, die sich auf mehr gründete als bloßes Mitleid. Es ist, wie man beim Talvolk sagt: Das Untrennbare Paar sind keine fernen Götter. Sie sind um uns herum.
Er kuschelte sich enger an Morritbi, doch die Hexe war ganz offenbar gelangweilt. Sie spielte mit den Strähnen ihres Haars, mit den Taschen an ihrem Gürtel, mit den Schnallen an ihren Stiefeln … »Jetzt reicht’s!«, sagte sie plötzlich und griff nach dem Riegel vor der Klappe. »Ich muss das sehen.«
Bevor Namakan protestieren konnte, hatte sie die Klappe einen Spalt geöffnet und lugte hinaus. Der Wind fuhr ihr ins Haar und ließ es tanzen wie lodernde Flammen. »Sieh dir das an, Namakan«, jubelte sie lachend. »Sieh dir das an!«
Er beugte sich gerade so weit vor, dass er an ihr vorbei nach unten schauen konnte.
Tief, tief unter ihnen breitete sich die schneebedeckte Weite der Büffelsteppe aus. Auf dem von Mond und Sternen beschienenen Weiß rannen dunkle Ströme dahin, die nicht aus Wasser waren: Riesige Herden jener Tiere, die diesem Landstrich seinen Namen gaben, zogen über die Steppe dahin und stampften mit ihren Hufen Linien in den Schnee. Bei ihrem Anblick musste Namakan an das feine Netz von Adern denken, das man sehen konnte, wenn man das Blatt eines Baumes gegen die Sonne hielt. Und noch an ein anderes Netz aus anderen Adern. Die Adern, die einem an den Handgelenken durch die dünne Haut schimmerten. Es ist alles gleich. Es gibt kein Groß und kein Klein. Es ist alles eins. Seine hehre Entrücktheit währte nicht länger als einen Wimpernschlag, ehe sie sich als flüchtig, wenn nicht gar als töricht entpuppte. Wie verdammt groß müssen diese Viecher sein, wenn ich von hier oben ihre Hörner und ihr zottiges Fell sehen kann?
»Sie ziehen zu den Salzlecken«, sagte Dalarr, der sich mittlerweile ebenfalls dem Spalt im Korb zugewandt hatte, dicht an Namakans Ohr. »Sie müssen dorthin, aber dort lauert auch der Tod auf sie. An den Lecken gehen die Falken auf die Jagd.«
Und dann begann Dalarr zum allersten Mal auf dieser langen Reise von der Vergangenheit zu berichten, ohne dass ihn die Fragen der anderen dazu gedrängt hätten.
Ihr müsst euch ein Bild von der Feste Kluvitfrost machen können. Um zu verstehen, was sich ereignete, als ich damals mit meinen Gefährten dort eintraf, nachdem wir die Ketten der Ewigkeit geholt hatten. Und um zu verstehen, was uns dort nun erwartet.
Die Feste trägt den Namen des Passes, den sie schützen soll. Der Pass selbst ist schmal. Zwanzig, fünfundzwanzig Schritte an der schmalsten Stelle. Ein feiner Einschnitt in schroffe Hänge, auf denen selbst der Schnee kaum Halt findet. Er spaltet einen Berg knapp unter dessen Gipfel. Wir Tegin nennen ihn Kollur Skipta, das Geteilte Haupt. Manch ein Gelehrter würde darüber streiten, ob der Kollur Skipta ein echter Berg ist, denn er ragt nur auf, wenn man ihn von Westen her betrachtet. Nähert man sich ihm vom Osten, ist er kaum mehr als ein Hügel von vielen, die den Rand einer weiten Ebene säumen. So ist das eben manchmal in dieser Welt: Aus einer Sache wird plötzlich eine andere, wenn man sie aus einer neuen Richtung betrachtet. Aus Bergen werden Hügel, aus stolzen Riesen aufgeblasene Zwerge und aus vornehmen Edeldamen verlotterte Huren.
Jedenfalls ist dieser schmale Pass auch nicht sehr lang. Man kann vom einen zum anderen Ende fast mit einem Bogen aufeinander schießen. Würde man von oben auf ihn schauen – und in diesen Genuss kommen wir ja nun bald –, würde man an einen Flaschenhals denken. Zur Ebene hin breit, zu der Seite des Berges, von der aus er auch wie ein Berg aussieht, verjüngt er sich. Beide Ausgänge sind mit Toren gesichert, und zwischen ihnen sind Wehrgänge in die Hänge getrieben. Gut befestigt, damit man den Feind von links wie von rechts unter Beschuss nehmen kann, falls es ihm gelingt, das erste Tor zu durchbrechen. Auf der Strecke zum zweiten Tor muss er sich dann durch einen Hagel von Steinen und Pfeilen kämpfen, über einen Untergrund, auf dem Gräben ausgehoben und Palisadenwälle errichtet wurden. Ungefähr in der Mitte des Passes erheben sich zudem zwei wuchtige Türme aus den Hängen, von deren Zinnen aus schwerstes Verteidigungsgerät
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