Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
Vom Netzwerk:
Die Toten wendeten das Blatt in dieser Schlacht. Sie trieben die Lebenden zu beiden Ausgängen des Passes vor sich her wie heulende Wölfe die Schafe.
    Nun öffnete sich auch das Tor im Osten, aufgestoßen von den verzweifelten Verteidigern Tristborns, die keinen anderen Gedanken mehr kannten, als von den Toten wegzukommen. Und auf der anderen Seite gaben die Barbaren ihren Pferden die Sporen und ritten im gestreckten Galopp durch das Tor im Westen, das sie doch eben erst nach so langer, blutiger Belagerung durchbrochen hatten.
    Die Stellung, aus der unsere Freunde dort unten im Flaschenhals den Ausfall gewagt hatten, wurde überrannt. Erst von den flüchtenden Lebenden, dann von den hungrigen Toten. Ich hätte geschworen, dass Eisarn ebenso gefallen sein musste wie Galt und die Elfe. Kein Zwergenhammer, kein Bardenlied und kein Elfenzauber konnte vor dieser Gewalt bestehen, so dachte ich. Und wie so oft in meinem verflucht langen Leben hätte ich das Denken besser einem anderen überlassen …
    Waldur hatte auf der Zinne inzwischen nach seinem Bogen gegriffen und schoss Pfeil um Pfeil in die tobende Menge dort unten. Er rief Arvid Anweisungen zu, die ich nicht verstand. Arvid riss an den Ketten, mal in die eine, mal in die andere Richtung. Der General, zum selben verderbten Unleben erwacht wie die anderen Toten, vollführte einen zuckenden, ruckenden Tanz.
    Ich glaube, ein Mann reinen Herzens hätte die Ketten gebändigt und die Tausenden Toten seinem Willen unterwerfen können. Aber Arvid, dessen Herz schwärzer ist als der Grund der Narbe? Einen einzigen Toten hätte er vielleicht beherrschen können, vielleicht auch ein Dutzend, aber Tausende? Er stolperte umher wie ein blöder Hirtenjunge auf den Almen in einem Gewitter, der nicht weiß, wie er sein panisches Vieh heim in den Stall bringen soll.
    Bis heute kann ich nur vermuten, weshalb die Toten und die Krankheit, die sie verbreiteten, nicht die ganze Welt ausgelöscht haben. Weshalb wir nicht alle zu Opfern der Plage wurden und man überhaupt noch etwas Lebendiges findet. Weshalb sie nur einige Sommer im Osten des Reichs wütete und danach nur noch vereinzelt an den entlegensten Orten ausbrach. Waldur. Es muss Waldur gewesen sein, der der Plage ein Ende machte. Wer weiß, welche Geister er dafür zu Hilfe rief? Welche Pakte er mit Wesenheiten eingegangen ist, für die wir vom Alten Geschlecht das sind, was ihr Welken Blumen für uns seid? Denkt daran, was ich euch über ihn sagte: Er wollte an den Strippen eines Herrschers über ein glorreiches Reich ziehen und nicht die Welt in ewige Finsternis stürzen.
    Ich weiß nicht mehr, wie lange ich da stand und Waldur ansah. Ich weiß nur, dass ich irgendwann nach Lodajas Hand greifen wollte und ins Leere fasste. Sie war fort! Geflüchtet! Den Turm hinunter in dieses heillose Chaos. Und ich, ich ließ Waldur und Arvid weiter gewähren und machte mich auf die Suche nach ihr. Warum? Ich wollte eher an ihrer Seite sterben als an der meines wahnsinnigen Freundes und seines Schoßtiers. Doch es kam alles anders, wie ihr wisst … anders, aber vielleicht keinen Deut besser. Denn besser wäre es nur gewesen, hätte ich damals den Mut gefunden, Arvid meine Klinge in den Rücken und Waldur von den Zinnen dieses Turms zu stoßen.
    Dann, und nur dann wäre es wirklich besser gewesen.
    Denn dann wäre Lodaja heute noch am Leben und wir wären nicht hier …
    Den Rest ihres Fluges verbrachten die Wanderer schweigend. Nur wenn einer von ihnen seine Notdurft durch die Klappe hinaus verrichten musste, murmelten sie einige wenige Worte, um ihre Bewegungen abzustimmen und den Korb nicht ins Wanken zu bringen.
    Sie nippten an ihren Feldflaschen und Trinkschläuchen, kauten auf den letzten Bissen Nahrung herum, die sie in ihren Taschen fanden, und starrten stumm vor sich hin. Selbst Eisarn gab Ruhe, und Namakan lernte, dass man durchaus etwas vermissen konnte, was einem kurz zuvor noch ein Ärgernis gewesen war.
    Einmal noch musste Namakan Kjells Schreie erdulden, und wie zuvor erduldete sie auch der Falke, als kümmerten sie ihn nicht. Kein Rütteln, kein Schütteln lief durch den Korb.
    Der Tag neigte sich bereits seinem Ende entgegen, als Hok Gammal sich mit lauten Rufen an sie wandte.
    »He, ihr da unten! Wir sind so gut wie da. Macht euch zur Landung bereit.«
    Niemand von ihnen wusste, wie dieses Bereitmachen sich gestalten sollte. Morritbi verstand darunter offensichtlich, die Klappe noch ein Stückchen weiter zu öffnen, als

Weitere Kostenlose Bücher