Heldenwinter
hinein.
Dann rief er Arvid an seine Seite. Selten hat man einen König so gehorsam gesehen. So gut abgerichtet. Ein dummes, treues Hündchen, das alles tut, um sich die Zuneigung seines Herrn zu sichern. Arvid hätte selbst seine eigene Kotze gefressen, wenn Waldur es von ihm verlangt hätte.
Das war nun allerdings nicht nötig, um auf die Macht der Ketten zuzugreifen. Waldur forderte seinen Sklaven lediglich dazu auf, sich die Hände aufzuschneiden, damit die schwarzen Glieder mit dem königlichen Blut gesalbt werden konnten.
Und so geschah es.
Obwohl Lodaja unter Tränen auf ihren Vater einredete, er solle von der Torheit ablassen, etwas beherrschen zu wollen, das sich nicht beherrschen lässt. Vergesst nicht: Sie hatte die Ketten auf dem langen Weg aus der Grotte des Plagenvaters getragen. Weil ihr Herz das reinste war, so wie Namakans Herz heute das reinste von uns ist, die wir hier in diesem Korb sitzen.
Es geschah.
Obwohl ich hätte eingreifen können. Doch damals wie heute glaube ich fest daran, dass es die Waffe ist, die den Schaden anrichtet, und nicht der, der sie führt.
Es geschah.
Obwohl seine Generäle sich von Arvid abwandten. Sie rannten aufgescheucht die Treppen hinunter, als fürchteten sie sich plötzlich mehr vor ihrem König und dessen Berater als vor den Fürsten der Pferdestämme.
Es geschah.
Arvid wand die Ketten um seine Arme und zog an ihnen. Kennt ihr das Frösteln, das manchmal selbst an einem schwülen Sommertag über einen kommt? Das jähe Aufschrecken aus einem Albtraum, das einen verwirrt und mit pochendem Herzen zurücklässt, auch wenn man sich an die Einzelheiten der Schrecken, die man gesehen hat, nicht mehr erinnert? Das Ziehen im Herzen beim Anblick eines Grabsteins, dem Wind und Wetter die Inschrift genommen haben?
So fühlte es sich an, als die Ketten ihre widerliche Macht entfalteten.
Waldur fand darin keinen Anlass zur Sorge. Er war auf eine Zinne gesprungen, die Hände in den Himmel gereckt, und er jubelte.
Unter ihm auf dem Schlachtfeld regten sich die Toten. Alle Toten. Die, die für Tristborn gestorben waren, genauso wie die, die Tristborn auszulöschen gedachten. Der Tod kennt kein Reich und keinen Stamm. Er braucht keine Familie und keine Gesellschaft. Vielleicht ist er zu beneiden, denn er war und ist sich selbst genug. Aber manchmal beugt er sich spielerisch dem Treiben anderer Kräfte, und an diesem Tag in Kluvitfrost machte er dem grausigen Schauspiel Platz, das der Plagenvater noch aus seiner Gruft heraus aufführte.
Die Gefallenen erhoben sich. Aus den Gräben, in denen knöcheltief roter Schlamm stand. Unter den Kadavern niedergemetzelter Pferde hervor, deren Läufe selbst bereits wieder in schwachen Tritten zu zucken begannen. Die, die auf den Wehrgängen von Pfeilen und Speeren durchbohrt worden waren, und die, denen am Fuß der Hänge kochendes Pech die Haut von den Muskeln gelöst hatte.
Sie wurden zu einem neuen Heer – dem dritten, das in Kluvitfrost in die Schlacht zog. Und auch wenn seine Streiter zuvor noch auf verschiedenen Seiten gestanden hatten, waren sie nun durch ihren hungrigen Zorn geeint. Es wäre falsch zu sagen, sie hätten weder Freund noch Feind gekannt, denn sie fielen nur über die Lebenden und nicht übereinander her.
Manche setzten die Waffen ein, die sie noch in ihren klammen Händen hielten – ihre Schwerter, ihre Piken, ihre Dolche. Die meisten jedoch kratzten und bissen und hieben wild heulend mit den Fäusten um sich.
Und wie schnell sie waren! Ganz anders als die ruhelosen Toten, die wir in der Grotte des Plagenvaters gesehen hatten. Sie waren wohl nicht lange genug richtig tot gewesen, um in eine tumbe Trägheit zu verfallen. Oder der Geruch des Blutes, der zum Schneiden dick in der Luft hing, peitschte sie auf.
Zudem hatten sie einen Vorteil, wie ihn sich jede Armee auf jedem Schlachtfeld wünscht: Nicht nur, dass sie fortan nicht mehr liegenblieben, wenn sie Wunden erlitten, die einen gewöhnlichen Kämpfer für immer in den Staub geschleudert hätten. Sie hatten die Überraschung ganz auf ihrer Seite, und hüben wie drüben – bei den Pferdestämmen wie bei den Soldaten von Tristborn – waren sämtliche Streiter einen Moment lang wie gelähmt. Man kann ihnen schlecht einen Vorwurf daraus machen, denn was sonst hätten sie tun sollen, als sie sahen, wie ihre Kameraden auf so grausige Weise wiederauferstanden?
Und als sie begriffen, dass diese Kreaturen eben nicht mehr ihre Kameraden waren, war es zu spät.
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