Heldenwinter
tiefen Blau – waren fingerlang und wuchsen so dicht an dicht, dass am Boden ein beständiges Zwielicht herrschte. Als wäre alles in diesem Wald in einer Dämmerung gefangen, die niemals aufhören wird und die nicht einmal weiß, ob sie der Nacht oder dem Tag Platz machen soll.
Namakan ließ die Hand der Rothaarigen los und wankte zu einem der Bäume, um sich dagegen zu lehnen. Erst hielt er es für Einbildung, doch als er den Stamm eingehend betastete und schließlich seine Wange auf die Rinde presste, wusste er, dass ihm seine Sinne keinen Streich spielten. Die Bäume sind warm! Es war beileibe keine glühende Hitze, die sie verströmten. Im Grunde genommen fühlten sie sich nicht wärmer an als ein Stein an einem Herbstabend. Angesichts der eisigen Luft war das dennoch höchst erstaunlich. Nakaman sah nach oben, um festzustellen, dass auf den Ästen und Nadeln des Baums kein Schnee lag. Auch um den Fuß des wagenraddicken Stamms herum war der Schnee fast vollständig weggeschmolzen. Wenn Namakan nicht seine behelfsmäßigen Fußlumpen getragen hätte, wäre ihm sofort aufgefallen, dass er einen weichen Untergrund aus herabgefallenen, verrottenden Nadeln unter den Sohlen hatte.
»Was sind das für Bäume?«, fragte er Dalarr, der sich mit der Rothaarigen an der Hand suchend umsah.
»Barttannen. So nennen sie die Leute, die in diesem Wald wohnen.«
»Barttannen? Wieso Barttannen?«
Während Dalarr mit schmalen Augen weiter links und rechts am Wald entlangspähte, klärte er seinen Schüler über die Herkunft des Namens auf. Er klang dabei, als kreisten seine Gedanken gerade um etwas wesentlich Bedeutenderes als die Gründe, aus denen irgendwelche Waldbewohner Tannen, die offenkundig keine Bärte hatten, Bärte andichteten. »Sie glauben, dass der Gott, der mit seiner Axt die Narbe ins Antlitz der Erde geschlagen hat, von den anderen Göttern bestraft wurde. Sie waren erzürnt, weil er ihre Schöpfung verschandelt hat. Also haben sie ihn gemeinsam niedergestreckt und ihn dort vergraben, wo er sein Unrecht begangen hat. Er ist zwar tot, aber so wie bei manchen Menschen nach dem Tod noch die Nägel und die Haare weiterwachsen, so ist das zumindest für die Leute aus dem Wald wohl auch für die Götter. Sie meinen, der Bart des Gottes sei weitergewachsen und in der Gestalt dieser Bäume aus der Erde gesprossen.«
»Glaubst du das?«
Dalarr schüttelte den Kopf. »Ich glaube, tot ist tot, und Bäume sind Bäume. Mir ist es gleich, wo sie herkommen. Für mich ist nur wichtig, dass sie da sind. Und hier gibt es zu wenige.«
Namakan genoss die Wärme des Stamms, und so lange er seinen Meister am Reden halten konnte, so lange brauchte er sich auch nicht von der Quelle seines Genusses zu lösen. »Zu wenige? Es ist doch ein ganzer Wald von ihnen da, Meister.«
»Mag sein.« Dalarr zeigte den Hang hinunter, den sie sich durch den Schnee hochgekämpft hatten. »Aber als ich das letzte Mal hier gewesen bin, lag der Eingang zu Kongulwafas Bau auf dieser Seite der Narbe noch mitten im Schwarzen Hain. Und jetzt gibt es da unten nur noch ein paar Baumstümpfe.«
Dalarrs Erwähnung seines letzten Besuchs bei der Spinnenkönigin erinnerte Namakan daran, dass es noch ein Rätsel gab, das nur sein Meister für ihn lösen konnte. Er beschloss, später danach zu fragen. Erst wollte er wissen, was dem Wald so zugesetzt hatte. »Was ist geschehen?«
»Die Äxte des Königs töten den Wald«, sagte die Rothaarige unvermittelt, als wäre sie dem Gespräch aufmerksam und mit klarem Verstand gefolgt. Doch bereits ihr nächster Satz stellte unter Beweis, dass sie noch weit davon entfernt war, eine sinnvolle Unterhaltung zu führen. »Sie verschleppen ihn aufs Meer und in die Berge und in die Wüsten.«
»Wovon redet sie da?«, fragte Namakan.
»Holzfäller«, kommentierte Dalarr. »Arvid lässt den Wald abholzen, um damit Schiffe und Wälle zu bauen, die wahrscheinlich die Reichsgrenzen sichern sollen.«
Namakan sah auf die Einöde, die sie durchquert hatten. Wie groß war Arvids Reich nur? Mit so viel Holz konnte man doch Tausende von Schiffen bauen und einen Wall, der rund um die Welt reichte. Es sah danach aus, als hätte er noch mehr als genug andere Feinde außer ihnen .
»Freunde dich nicht zu sehr mit der Tanne da an«, sagte Dalarr. »Wir gehen weiter.«
»Wohin?«
Dalarr zeigte nach rechts. »Ich hoffe, dass ich da etwas finde, das mir verraten kann, wo wir genau sind. Wenn wir in den Wald hineingehen, ohne dass ich
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