Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
Vom Netzwerk:
ist. Und er kennt die Zeiten, in denen er beides zugleich sein muss. So sagt es das Feuer.«
    »Da hast du es.« Dalarr nickte. »Sie sieht die Dinge wie ich. Kluges Mädchen. Also gut, zwei Tage hat sie.«
    Nachdem Namakan der Rothaarigen die Füße umwickelt hatte, zogen er und sein Meister sie gemeinsam auf die Beine. Sie nahmen sie zwischen sich wie ein Kind, Namakan an ihrer rechten Hand, Dalarr an ihrer Linken. Dann zogen sie los, dem grauen Streif am Horizont entgegen.
    Namakan war auf ihrer Wanderung bald von zwei Dingen überzeugt. Zum einen erhärtete sich sein Verdacht, dass im Körper der Rothaarigen ein schlimmes Fieber wütete. Ihre dürren Finger in seiner Hand fühlten sich an wie glimmender Reisig. Zum anderen würde er echte Schuhe brauchen – am besten Stiefel mit hohem Schaft –, falls die ganze Welt jenseits der Narbe nichts weiter als eine einzige, kalte Ödnis war. Der Schnee haftete zu gut an den Wollstreifen, und jeder neue Schritt fiel ihm schwerer als der davor. Wenn er vor sich nach unten blickte, sah er anstelle des gewohnten Anblicks seiner nackten Füße nur noch zwei unförmige, weiße Klumpen. Ich spüre meine Zehen nicht mehr. Ich weiß, dass sie noch da sind – aber nur, weil sie ja nicht aus den Lumpen fallen können. Er beschäftigte sich eine Weile mit der verzweifelten Aussicht, schon bald ein Gasthaus am Waldrand zu finden, in dem er seine Füße in einem schönen Bottich heißem Wasser aufwärmen konnte. Sein Sehnen schlug in bittere Ernüchterung um, als ihm gewahr wurde, wem er die Tortur dieses Marsches letztlich zu verdanken hatte. »Es tut mir leid, Meister.«
    Obwohl sie seit Beginn ihrer Wanderung kein Wort gewechselt hatten, geriet Dalarr nicht aus dem Tritt. »Was?«
    »Dass wir bei den Spinnen gelandet sind. Du wolltest nur durch das Netz klettern, aber du hattest nie vor, Kongulwafa zu begegnen.«
    »Kann schon sein.«
    »Wir hätten ihr aus dem Weg gehen können, wenn ich nicht darauf bestanden hätte, dass sich Wikowar uns anschließen darf, dieses fette Stück Dreck. Wenn ich ihn doch nur gleich abgestochen hätte …«
    »Mach dir doch nichts vor«, entgegnete Dalarr milde. »Wenn du ihn gleich abgestochen hättest, dann wärst du nicht der, der du bist.«
    »Bist du nicht zornig auf mich?«
    »Ich habe dir erlaubt, die Entscheidung zu treffen, ob wir dieses Schwein mitnehmen oder nicht«, erklärte Dalarr. »Also wäre es wohl angemessener, auf mich selbst zornig zu sein, und das versuche ich mir schon seit ewigen Zeiten abzugewöhnen. Es lohnt sich nicht, um ein Pferd zu weinen, sobald man es zu Tode geritten hat.«
    Schweigend gingen die drei eine Weile lang weiter. Da er feststellte, dass er die Kälte leichter ertrug, wenn er die Stimme seines Meisters zur Ablenkung hatte, fragte Namakan schließlich: »Wohnt Arvid sehr weit hinter diesem Wald?«
    »Ich muss dich enttäuschen. Er wohnt gar nicht hinter diesem Wald.« Dalarr wies mit dem Daumen über die Schulter hinter sich. »Silvretsodra liegt im Süden. Dort steht sein Palast.«
    »Und warum laufen wir dann auf diesen Wald zu?«, erkundigte sich Namakan ein wenig beunruhigt.
    »Weil der beste Weg zu einem Ziel nicht immer der kürzeste ist«, antwortete Dalarr in jenem Tonfall, von dem Namakan nur allzu gut wusste, dass jedes weitere Nachbohren eine vergeudete Mühe gewesen wäre.
    Als sie am Waldrand ankamen, hatte Namakan sich beinahe schon damit abgefunden, dass die Welt jenseits der Berge keine Wunder mehr für ihn bereithalten würde. Bis hierhin hatte sie ihm stattdessen nur Dinge geboten, auf die er gut und gerne hätte verzichten können: kalte Luft, die ihm bei jedem Atemzug in den Lungen brannte. Müde Beine, die vor Anstrengung zitterten. Plötzlich einsetzende Böen, die den Schnee aufwirbelten und ihn ihm wie unzählige winzige Dolche aus Eiskristallen ins Gesicht bliesen.
    Insofern war er dankbar für die Bäume. Nicht nur, weil sie zumindest ein wenig Schutz vor dem Wind versprachen. Sie waren anders als die Bäume, die er von den Immergrünen Almen kannte. Die Rinde an ihren kerzengeraden Stämmen war schwarz und glatt, sodass sie eher an Säulen aus Basalt oder Marmor oder irgendeinem anderen Gestein und nicht so sehr an Teile einer Pflanze erinnerten. Sie stießen gewiss dreißig oder vierzig Schritt in den verhangenen Himmel hinauf, wobei sie erst nach dem untersten Drittel überhaupt Äste und Zweige zeigten. Ihre Nadeln – schwarz oder vielleicht auch nur von einem sehr, sehr

Weitere Kostenlose Bücher