Heldenwinter
verschwendet zu haben, was aus den anderen wurde. »Sie werden es allein schaffen müssen«, sagte ich. »Wir können ihnen nicht mehr helfen.«
Nun wäre gewiss ein heftiger Streit zwischen uns entbrannt, dessen Ausgang von vornherein feststand. Sie hätte sich irgendwann aus meinem Griff gewunden und wäre losgelaufen, um nach den anderen zu suchen. Und ich, ich wäre ihr gefolgt. Ins Herz des Wahnsinns, wo wir beide umgekommen wären. Doch das Schicksal hatte anderes mit uns vor.
Aus einem nahen Zelt trat eine Frau hervor. Ich würde gern behaupten, sie wäre voll Würde und unberührt von dem Grauen um uns herum auf uns zugeschritten. Dem war nicht so. Ihr Blick flatterte unstet, sie wankte und hielt das Bündel Stoff, das sie an ihre Brust drückte, so fest umklammert, dass der Säugling darin klagend heulte. So klein, so verlassen, so verloren wirkte sie, als wäre sie nur ein Mädchen, das ein Geschwisterchen hütet. Angesichts der Bedrohung durch die Pferdestämme hatte Arvid einen seiner Kuriere sogar auf die Immergrünen Almen entsandt, und einige der kleinen Menschen dort hatten beschlossen, den großen Menschen in ihrer Not beizustehen. Das war tapfer von ihnen. Tapfer und dumm.
»Habt ihr meinen Gatten gesehen?«, fragte die kleine Frau. »Er hat schwarzes Haar und kämpft an vorderster Front.«
Ich hatte nichts zu erwidern. Lodaja schüttelte stumm den Kopf.
Die kleine Frau sah an uns vorbei, hinüber zu den Wällen, wo die Plageopfer getrieben von ihrem Hunger nach Fleisch auf die letzten verbliebenen Kämpfer eindrangen. »Er muss dort drüben sein«, sagte sie. »Er wird nie aufhören zu kämpfen. Ich will nicht ohne ihn sterben.«
Ich war wie gelähmt, und Lodaja erging es nicht anders. Ich hörte keine Schreie und kein Waffenklirren mehr, roch keinen Rauch und kein Blut. Für einen Moment nahm ich nichts anderes mehr wahr als das Gesicht dieser Frau, die um etwas so Hehrem wie bedingungsloser Treue willen in den sicheren Tod zu gehen gedachte. Ich konnte mich erst wieder rühren, als sie das Bündel mit dem Säugling an Lodaja übergeben und im Gewühl der Flüchtenden verschwunden war. Zwei Dinge an ihrem aus dem Strom der Zeit gerissenen Abschied werde ich niemals vergessen: wie sich die Menge der von den Wällen herabeilenden großen Menschen einen winzigen Augenblick um sie teilte, als würde sie alle überragen und nicht unter ihnen wie ein Kind wirken. Und die letzten Worte, die sie Lodaja zurief, ehe sich eine Wand aus Leibern um sie schloss: »Bringt ihn nach Hause!«
Wie hätten wir diesem Wunsch nicht entsprechen können? Dir mag es so erscheinen, als hätten wir dich gerettet. In Wahrheit jedoch glaube ich, dass es umgekehrt war. Wärst du nicht zu uns gekommen, hätte ich Lodaja nachgegeben und wir wären zurück zu den Wällen gegangen, um unseren Freunden beizustehen. Ein hoffnungsloses und noch dazu unnützes Unterfangen wäre es geworden, denn keinen unserer Freunde hätten wir dort gefunden. Nur den Tod und einen Mann, der nicht länger unser Freund war.
Er war es auch, der Lodaja und mich stellte, als wir uns an den Rand des Lagers vorarbeiteten, wo wir ein Pferd zu finden hofften. Man nannte Waldur schon damals oft den Krieger in Weiß, doch wenn ihn nun ein Fremder zum ersten Mal gesehen hätte, wäre ihm dieser Name höchst rätselhaft erschienen. Nichts mehr an Waldurs Rüstung war weiß. Sie war schwarz von Ruß, rot von Blut und braun von Erde, ebenso wie seine Haut und sein Haar. Aus dem strahlenden Recken war eine Kreatur geworden, der man in Albträumen über Dämonen und böse Geister begegnet. Es war nicht die Plage, die von ihm Besitz ergriffen hatte – es war lediglich so, als würde er uns das erste Mal so gegenüberstehen, wie er in seinem Innersten schon immer gewesen war. Dem Schein von Anmut und Schönheit beraubt, legte er uns den innersten Kern seines Wesens bloß, das grausam und hässlich war.
»Wo willst du hin?«, rief er und deutete mit seinem Bogen auf mich. »Wir haben all das hier angerichtet, und es ist an uns, dem ein Ende zu setzen.«
Heißer Zorn wallte in mir auf, der sich in gleichen Teilen gegen ihn wie auch gegen mich selbst richtete. »Welches Ende sollte das sein, von dem du da faselst? Siehst du nicht, dass all das hier bereits das Ende ist? Wir haben genug getan. Mehr als genug.«
Waldur mochte alles Schöne an sich verloren haben, aber weder seine Flinkheit noch das Geschick seiner Hände. Schneller als ein Blitz vom Himmel
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