Heldenwinter
fährt, war sein Bogen gespannt und die Spitze eines Pfeils auf mein Herz gerichtet. »So einfach kommst du mir nicht davon, Bruder. Das ist meine letzte Warnung: Hilf mir, unser Werk zu vollenden, oder ich schicke dich in die Stille Leere.«
Ich gab ihm die einzige Antwort, die er verdient hatte: Ich zog meine Schwerter.
Der Pfeil schnellte von der Sehne und überbrückte die fünfzehn Schritte zwischen ihm und mir binnen eines Wimpernschlags. Er war gut geschossen, und er hätte meinen Panzer durchschlagen, aber Waldur hatte die Rechnung ohne meine Klingen gemacht. Ich wischte das Geschoss mit Blotuwakar beiseite und war bereit, diesem Dämon, den ich so viele Sommer meinen Freund geheißen hatte, den kranken Kopf von den Schultern zu trennen.
»Deine Augen sind wohl trüb und deine Finger zittrig geworden. Beim nächsten Mal versuchst du es besser aus dem Hinterhalt«, rief ich ihm höhnisch zu und wollte auf ihn einstürmen.
Doch ich zögerte, als ich bemerkte, dass sein Blick nicht mehr auf mir lag und ein sonderbarer Ausdruck sich auf seinem besudelten Gesicht ausgebreitet hatte. Die Wut über meine Abkehr von Arvid und ihm war einer jähen Bestürzung gewichen. Seine Lippen bebten und formten ein ums andere Mal ein und dasselbe Wort: »Nein.«
Ich wandte den Kopf, um zu sehen, was diese Veränderung in ihm angestoßen hatte – und es brach mir schier das Herz.
Der sture Pfeil, den ich abgewehrt hatte, war nicht zu Boden gefallen, ohne vorher Blut zu kosten. Lodajas Blut. Es rann ihr die Wange herab und tropfte von ihrem Kinn auf das Bündel, das sie trug. Ihr Auge war fort, mitgerissen von dem Geschoss, das sich ihr in den Schädel gebohrt hätte, wenn ich Blotuwakars Klinge bei meinem abwehrenden Hieb nur einen Deut schräger gehalten hätte. Sie zeigte keinen Schmerz, als hätte sie noch gar nicht begriffen, welch schreckliche Wunde ihr zugefügt worden war. Sie stand aufrecht, dich in ihren Armen geborgen, wie wenn sie dich um nichts in der Welt je wieder hergeben würde.
Von irgendwo jenseits der Wälle hörte ich ein dumpfes Pochen und Wummern, und ich weiß noch, dass ich es für die Kriegstrommeln der Barbaren hielt. Wie töricht von mir, wo ich doch selbst vorher Zeuge geworden war, wie jeder Gedanke an geordnete Schlachtreihen in tausend Stücke zerfetzt wurde, als Arvid sein verheerendes Werkzeug zum Einsatz brachte. Die Trommeln, die keine waren, trieben mich dennoch dazu, meinen Kampfesmut wiederzufinden. Waldur würde für Lodajas verlorenes Auge bezahlen.
Er hat der Plage viel zu verdanken. Sie ist es, die ihn davor rettete, von mir ausgeweidet zu werden.
Ich habe dir davon erzählt, wie die Erde zu Beginn der Schlacht unter den Hufen der Pferde erbebte, und nun tat sie es ein zweites Mal. Eine neue Flut von Leibern, in denen die Plage wütete, ergoss sich über die Wälle.
Bei der Metzelei an jenem Tag hatten nicht nur Tausende Menschen ihr Leben ausgehaucht. Denk daran, wer da versucht hatte, Kluvitfrost zu nehmen und über den Pass ins Reich einzufallen. Die Pferdestämme. Und so hatte die Plage reichlich Gelegenheit, in tote Geschöpfe einzufahren, die statt auf zwei auf vier Beinen gingen. Pferde, denen das Gedärm aus den Flanken baumelte. Pferde, deren Köpfe über den Boden schleiften, weil ihre Hälse halb abgehackt oder gebrochen waren. Pferde, die von Lanzen durchbohrt und mit Pfeilen gespickt waren. Pferde, denen kochendes Pech die Haut weggebrannt hatte. Eine grausige Herde, die im gestreckten Galopp durch das verwüstete Lager hetzte. Wen sie nicht unter ihren donnernden Hufen zermalmte, der fiel ihrem Hunger zum Opfer. Denn das war das Unvorstellbarste, das, was das Gefüge der Welt selbst ins Wanken zu bringen schien: Diese toten Pferde fraßen Fleisch. Je tiefer die Herde ins Lager vorpreschte, desto mehr dünnte sie sich aus, weil Teile von ihr innehielten, um sich an den Sterbenden gütlich zu tun.
Lodaja rief meinen Namen, und ich wandte mich ab von den Pferden, in denen die Plage hauste. Noch immer lief ihr das Blut über die Wange, als weinte ein Auge, das es nicht mehr gab, rote Tränen.
»Dalarr«, sagte sie flehend, und in ihrer Stimme klang der Schmerz mit, den ihr gefasstes Äußeres nicht verriet. »Denk an das Versprechen, das du mir gegeben hast. Du wolltest der Held sein, der den Mut in seiner Feigheit findet.«
Meine Pflicht und mein Rachedurst fochten in mir einen erbitterten Kampf. »Was ist mit ihm?«, fragte ich. »Was ist mit Waldur? Soll er
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