Heldenwinter
ungestraft davonkommen?«
Ich drehte mich um, in der festen Erwartung, dass der Freund, der zu meinem Feind geworden war, seine Erstarrung überwunden hatte und mit gezücktem Schwert auf mich zurannte. Er hatte tatsächlich blank gezogen, doch nicht, um den Zweikampf mit mir zu suchen. Er hatte es mit einem anderen Gegner zu tun.
Ein toter Rappe, dem die Streitaxt eines Reichssoldaten im Schädel steckte wie ein makabrer Kopfputz, hatte sich aus der Herde gelöst. Er stieg auf die Hinterbeine auf und trat mit wirbelnden Hufen auf Waldur ein. Waldur tauchte jedoch unter dem wilden Angriff hindurch und rammte dem Hengst das Schwert bis zum Heft in den Bauch. Ein lebendiges Pferd hätte dieser Treffer gefällt. Dieses Monstrum nicht. Es tänzelte nur ein Stück nach hinten und riss Waldur die Klinge aus den Händen. Dann trat es erneut zu und erwischte den schutzlosen Waldur an der Schulter. Die Wucht des Tritts warf ihn zu Boden.
Wenn ich mir heute eines vorwerfen kann, was an diesem Tag geschehen ist, dann das: Ich hätte warten müssen, um zu sehen, ob der Rappe Waldur auch wirklich zu Tode trampelte. So hätte ich uns und unzähligen anderen viel Leid ersparen können. Doch ich wartete nicht. Warum? Ich vermag es nicht mit Gewissheit zu sagen. Die Sorge um Lodaja trug ihren Teil dazu bei, aber ich befürchte, es war auch falsches Mitleid im Spiel – Waldur war ein Krieger von edlem Geblüt, und bei allem, was er getan hatte, hatte er es nicht verdient, so zu sterben. Ich war ein Holzkopf. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich hätte wissen müssen, dass ein Mann wie Waldur sich nicht von einem Gaul vom Antlitz der Erde tilgen lassen würde – ganz gleich, ob der Gaul nun tot, lebendig oder irgendetwas dazwischen ist.
Nun, ich schaute nicht bis zum Ende zu. Ich steckte meine Schwerter weg, warf mir Lodaja samt dir über die Schultern und lief los.
Der Rest ist rasch berichtet. Wir nahmen uns ein Pferd und ritten davon. Ich versorgte Lodajas Wunde und leistete einen neuen Eid. Ich würde ihr ihr Auge zurückgeben, und wenigstens das habe ich geschafft. So, wie wir es gemeinsam geschafft haben, dich nach Hause auf die Immergrünen Almen zurückzubringen. Diese beiden Taten sind miteinander verflochten, denn ich brauchte weißes Skaldat und eine Esse, um ihr ein neues Auge zu machen. Ich wusste, dass ich beides beim Spinnenvolk finden würde. So gingen wir zu Kongulwafa, und im Tausch gegen Skaldat und Esse verriet ich ihr all die großen und kleinen Geheimnisse, die ich in meiner Zeit mit Waldur und Arvid in Erfahrung gebracht hatte. Du hast sie gesehen, mein Junge, und du kannst dir leicht ausmalen, wie begeistert sie diesem Handel zustimmte. Sie konnte gar nicht genug davon kriegen – von den Lügen, den Täuschungen, den vertuschten Verfehlungen.
Jetzt kennst du also die Wahrheit. Jetzt weißt du, woher du kommst.
Unberührt lagen die Schinkenscheiben auf dem Teller, den Dalarr neben Namakan auf das Bett gestellt hatte. Sie dufteten köstlich, aber Namakan war der Appetit vergangen. Er glaubte nicht, jemals wieder Hunger zu haben. Er hob die Hand und starrte auf seinen Ring.
Sie sind tot. Meine Eltern sind tot. Sie sind keine Zauberer, die mich nur beim Meister und Lodaja ausgesetzt haben, um auf eine lange Queste zu gehen, die zu gefährlich für einen Säugling wäre. Sie sind einfach nur tot.
»Warum bist du traurig?« Die Rothaarige trat an sein Bett und kniete sich davor hin. »Das war nichts, was das Feuer erzählt hat. Das war doch nur eine Geschichte.«
Namakan sah ihr in die glasigen Augen. »Ja, aber das war meine Geschichte. Verstehst du denn gar nichts, du verrücktes Ding?«
Ein kleiner heller Funke sprühte im tiefen Braun ihrer Pupillen auf. »Ich verstehe das, was ich verstehen muss.«
Sie nahm seine Hand, und erst wollte er sie zurückziehen, doch die Wärme ihrer Finger und das Gefühl, berührt zu werden, waren zu angenehm. Ihre Fingerkuppen streichelten sanft über den Ring, der so gut wie mit seiner Haut verwachsen war. »Ich verstehe das, was ich fühle.«
Ein metallisches Poltern schreckte sie beide auf.
»So sehr es mich freut, dass du ein wenig zu dir kommst, Kleine, jetzt ist nicht die Zeit für euch beide, aneinander herumzuspielen.« Dalarr deutete auf den Topf, den er in eine der Ecken der Hütte geworfen hatte. »Sperrt eure Ohren auf. Da rein könnt ihr heute Nacht euer Wasser abschlagen. Kommt mir ja nicht auf die Idee, da rauszugehen, solange es dunkel ist. Die
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