Heldenwinter
den Flüssen und lassen die Boote dann von Pferden ziehen.« Die Rothaarige klang, als beschriebe sie ein unvorstellbares Verbrechen – die Schändung einer Priesterin oder das Verspeisen kleiner Kinder. »Die Säulen meiner Welt schwimmen davon.«
Ihre Worte erweckten den Anschein, als hätte sie einigermaßen zurück zu Sinn und Verstand gefunden. Ihr Verhalten, das sie im weiteren Verlauf des Morgens zeigte, ließ daran jedoch erhebliche Zweifel aufkommen.
Einmal rannte sie urplötzlich auf eine der Barttannen zu, um deren Stamm fest in die Arme zu schließen und ihre Wange einen Moment voller Leidenschaft an die glatte Rinde zu pressen. Wie eine Frau, die einen verloren geglaubten Geliebten wiederfand, überschüttete sie den Baum mit Küssen und gurrte süße Laute.
Ein anderes Mal verharrte sie an einem Felsen, um den Schnee von ihm herunterzuwischen und dabei beruhigend auf das leblose Gestein einzumurmeln. Namakan glaubte die Worte »Bruder« und »Schlaf« zu verstehen.
Um die Mittagszeit schließlich stimmte sie ein Lied an, dessen zwei kurze Strophen sie beständig wiederholte. Die Melodie war wehmütig, doch sie tanzte dazu ausgelassen, wirbelte mit den Armen und drehte sich im Kreis, wie wenn sie eine überschäumende Freude verspürte.
»Der Wald freit um mein Herz,
und ich bin schon verloren.
Er lehrt mich seine Zauber,
bin dazu auserkoren.
Der Wald teilt meine Seele,
zum Wohl und zum Verderben.
Er weckt meine Mächte,
und ich will für ihn sterben.«
»Glaubst du, sie ist verrückt?«, wandte sich Namakan nach der dutzendsten Wiederholung leise an Dalarr.
»Wenn man bedenkt, dass sie freiwillig in Kongulwafas Bau gelaufen ist, weil sie das alte Achtbein für ihr Geistertier gehalten hat …« Dalarr schürzte die Lippen. »Aber wer sind wir schon, darüber zu urteilen? Unser Vorhaben hat vielleicht einen triftigeren Grund, was jedoch nicht heißt, dass man uns dafür nicht genauso für verrückt halten könnte. Am Ende kommt es doch nur darauf an, was man aus seiner Verrücktheit macht.«
Als sie tief genug in den Schwarzen Hain vorgedrungen waren, bekam Namakan doch noch einige Wunder zu sehen, wie er sie sich von der Welt jenseits der Narbe versprochen hatte.
Auf das erste Wunder musste ihn sein Meister hinweisen, denn sonst hätte er es glatt übersehen. Im Wipfel einer Tanne hing etwas, was auf den ersten Blick so aussah, als hätte ein Riese versucht, den Kopf eines Morgensterns aus Ästen und Ranken zu bauen. Namakan fragte sich kurz, ob das runde, stachelige Ding womöglich eine Art Frucht der Tanne sein konnte – immerhin reiften ja auch Zapfen an Tannen, warum dann nicht auch diese vage kastanienartige Kugel?
»Das ist ein Kobel, in dem die Eichkatzen den Winter über ruhen«, löste Dalarr das Rätsel für ihn.
»Ein Kobel? Wie groß werden die Eichkatzen denn hier in diesem Wald, dass sie so gewaltige Nester brauchen?«
»Die Eichkatzen hier sind nicht so wie die, die du von den Almen kennst, du Fifl.« Dalarr sah unverwandt nach oben. »Sie werden zwar nicht viel größer, aber sie sind viel schlauer. Sie bauen ihre Kobel gemeinsam, um sich vor ihren Feinden zu schützen. Daher auch die Stacheln. So halten sie die Bar Gripir fern.«
Die Rothaarige, die erst vor wenigen Augenblicken endlich – endlich! – das Singen eingestellt hatte, trat neben sie und winkte zu dem Kobel hinauf. »Ihr braucht heute keine Angst zu haben, ihr Feiglinge. Die Klauenschatten haben sich die Bäuche schon vollgefressen.« Dann streichelte sie rasch einen tief hängenden Zweig der Barttanne und ging weiter.
Auch das nächste Wunder stand mit einem der sonderbar warmen Bäume in Verbindung, deren Wurzeln der Schnee trotz seiner Übermacht nur einzukreisen und nicht unter sich zu begraben vermochte. Um seinen Stamm herum lag eine dicke Schicht schwarzer, grünlicher und bräunlicher Fetzen, die man leicht mit trockenem Herbstlaub hätte verwechseln können. Dagegen sprach natürlich, dass die Bäume im Schwarzen Hain Nadeln anstelle von Blättern trugen, und Namakan schüttelte sich vor Ekel, als er erkannte, was da um diese Tanne aufgehäuft war. Schlangenhäute! Es müssen Hunderte sein! Manche sind sogar noch vollkommen heil!
Er hätte am liebsten einen großen Bogen darum gemacht. Leider packte ihn die Rothaarige unversehens an der Hand und eilte schnurstracks mit ihm im Schlepptau darauf zu.
»Wie schön!«, jauchzte sie. »Wie schön! Meine großzügigen Schwestern haben
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