Heldin wider Willen
sich; einen Augenblick lang spürte sie die Woge der Zuversicht, die ihr den Kopf freigespült hatte, um diese kritischen Entscheidungen zu treffen. Das war die Person, die sie sein wollte, die Person, die sich ganz zu Hause fühlte, ungeteilt, die Person, die sich den Respekt verdient hatte, wie er ihr jetzt von den anderen entgegenschlug.
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Sie hätten sie nicht respektiert, wenn sie von den Albträumen wüssten. Esmay schnitt eine Grimasse und stellte sich vor, sie wäre ein Kreuzerkommandant, der nach jeder Schlacht eine Runde Albträume erlebte … sie konnte sehen, wie die Besatzung auf Zehenspitzen herumtappte und sich anhörte, wie Esmay um sich schlug und stöhnte. Einen Augenblick lang kam ihr das beinahe komisch vor, dann füllten sich ihre Augen mit Tränen. Nein! Sie musste einen Weg finden, um das zu ändern.
Sie stemmte sich hoch und ging unter die Dusche.
Während der nächsten Schicht traf die Nachricht ein, dass Barin die Regeneration hinter sich hatte und wieder Besucher empfangen konnte. Esmay wollte eigentlich gar nicht wissen, welches Grauen er erduldet hatte, aber sie musste ihn einfach besuchen.
Barins Augen wirkten lichtlos; er kam Esmay weniger als ein Serrano vor als je zuvor. Sie sagte sich, dass er wahrscheinlich unter der Wirkung von Beruhigungsmitteln stand.
»Möchtest du ein bisschen Gesellschaft haben?«
Er zuckte zusammen, wurde dann starr und blickte an ihrem Kopf vorbei. »Lieutenant Suiza … Ich habe gehört, Sie hätten Großes geleistet.«
Esmay zuckte die Achseln. »Ich habe getan, was ich konnte.«
»Mehr als ich.« Das klang weder humorvoll noch bitter,
sondern kam in einem flachen Tonfall, bei dem es Esmay kalt über den Rücken lief. Sie konnte sich an genau diese Ausdruckslosigkeit im eigenen Ton erinnern, zu jener Zeit, an die sie lieber nicht denken wollte.
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Sie öffnete den Mund, um ihm das zu sagen, was er zweifellos schon von anderen gehört hatte, klappte ihn aber wieder zu. Sie konnte sich denken, was die anderen gesagt hatten – das Gleiche wie auch ihr –, und es half nicht. Was aber half? Sie hatte keine Ahnung.
»Ich gehöre hier nicht hin«, sagte Barin im gleichen
ausdruckslosen Ton. »Ein Serrano … ein echter Serrano wie meine Großmutter oder Heris … hätte etwas getan.«
In dem Sekundenbruchteil, bevor Esmay den Mund öffnete,
hätte sie ihn fast zugesperrt, als ihr dämmerte, was sie sagen würde. Durch den Schmerz hindurch, den diese Reaktion erzeugte, bekam Esmay den ersten Satzbaustein hervor: »Als ich gefangen genommen wurde …«
»Du wurdest gefangen genommen? Davon hat man mir gar
nichts erzählt. Ich wette, du hast ihnen richtig Schwierigkeiten gemacht.«
Zorn und Angst machten ihre Stimme rau, sodass sie sie
selbst kaum wiedererkannte. »Ich war noch ein Kind. Ich habe niemandem Schwierigkeiten gemacht…« Sie konnte Barin nicht anblicken; sie konnte überhaupt nichts anblicken, außer die durch ihren Verstand ziehenden Schatten, die deutlich aus dem Nebel hervortraten. »Ich hatte… nach meinem Vater gesucht.
Meine Mutter war gestorben – an einem Fieber, das wir auf Altiplano kennen –, und mein Vater war mit seiner Armee unterwegs und kämpfte in einem Bürgerkrieg.« Ein kurzer Blick in Barins Gesicht; seine Augen zeigten jetzt wieder Leben. So viel hatte sie immerhin erreicht. Sie erzählte die Geschichte so rasch und so schlecht, wie sie konnte, und versuchte, dabei nicht nachzudenken. Die Ausgerissene … die fette Frau im Zug …
die Explosionen … das Dorf mit den Leichen, den Menschen, 585
von denen Esmay zunächst geglaubt hatte, sie schliefen. Dann die uniformierten Männer, die groben Hände, der Schmerz, die Hilflosigkeit, die noch schlimmer war als der Schmerz.
Wieder ein kurzer Blick. Barins Gesicht war so bleich geworden, dass die Farbe fast ihrer eigenen entsprach. »Esmay …
Lieutenant… ich hatte ja keine Ahnung …«
»Nein. Das ist kein Thema, über das ich spreche. Meine
Familie … hatte darauf bestanden, es wäre ein Traum gewesen, ein Fiebertraum. Ich war lange Zeit krank, das gleiche Fieber, an dem Mutter gelitten hatte. Man erzählte mir, ich wäre weggelaufen, dabei der Front nahe gekommen, wäre verletzt worden … aber der Rest wäre nur ein Traum, sagten sie.«
»Der Rest?«
Es fühlte sich an wie Messer in ihrem Hals; es fühlte sich noch schlimmer an. »Der Mann … er war … ich kannte ihn.
Hatte ihn gekannt. Er gehörte zum Kommandobereich meines Vaters.
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