Heldin wider Willen
überzeugen, dass sich der weiße Kragen flach und ohne Falten um ihren Hals schmiegte.
Die Blässe war aus dem Gesicht verschwunden; sie sah jetzt wieder nach Esmay Suiza aus.
Aber war sie es? War Esmay Suiza eine reale Person? Konnte man auf einem Fundament aus Lügen eine reale Person
aufbauen? Sie kämpfte sich einen Weg durch die erstickenden dunklen Wolken ihres Bewusstseins frei, versuchte sich an dem festzuhalten, was sie kannte, was Seb Coron ihr erzählt hatte, an jedem logischen Bindeglied, das diese Dinge verknüpfen
konnte.
Als sich die Qualmwolke aus ihren Gedanken verzogen hatte, war der erste Gedanke, den sie wieder erkannte, selbstgefällige Erleichterung: Sie hatte Recht gehabt. Sie hatte die Wahrheit gekannt; sie war keinem Irrtum unterlegen. Ihr erwachsener Verstand mischte sich ein: Abgesehen von der Dummheit,
überhaupt von zu Hause wegzulaufen, der Idiotie eines Kindes, das mitten in einem Bürgerkrieg quer durchs Land reisen wollte.
Sie hämmerte diese kritische Stimme nieder. Sie war noch ein Kind gewesen; Kinder hatten per Definition keine Ahnung von solchen Dingen. Im Wesentlichen hatte sie Recht gehabt, denn 147
sie hatte die Bilder von damals wieder erkannt und die Wahrheit über das erzählt, was passiert war.
Auf diesen Augenblick der Freude folgte Zorn. Sie hatte
Recht gehabt, aber man hatte sie belogen! Man hatte ihr gesagt, sie würde sich irren – sie wäre vom Fieber verwirrt … Hatte sie überhaupt Fieber gehabt? Sie fing schon an, die medizinischen Dateien des Haushalts aufzurufen, ehe die kritische Stimme in ihr darauf hinwies, dass die Unterlagen natürlich eine solche Krankheit und die entsprechende Pflege anzeigen würden. Die ganze Geschichte konnte erfunden sein – wie sollte sie das herausfinden? Umd wem wollte sie es beweisen?
In diesem Augenblick am liebsten aller Welt. Sie wollte die Wahrheit ihrem Vater ins Gesicht schreien, ihrem Onkel, sogar Papa Stefan. Sie wollte sie alle an den Hälsen packen, sie zwingen zu sehen, was sie selbst erblickt hatte, zu spüren, was sie selbst gespürt hatte, zuzugeben, dass Esmay das alles wirklich erlitten hatte.
Aber sie wussten es ja schon. Die Erschöpfung folgte auf den Überschwang, wie sie auf Fieber folgte; Esmay spürte die vertraute Mattigkeit in den Adern, die sie herunterzog,
unbeweglich und fügsam machte. Sie wussten es, und doch
hatten sie sie belogen.
Esmay konnte ihr Geheimnis wahren, die Familie im Glauben wiegen, es wäre nach wie vor ungefährdet, und erneut
davonlaufen. Gefördert von ihrer eigenen Komplizenschaft, würde sich die Familie weiter behaglich fühlen.
Oder sie konfrontierte sie.
Sie blickte erneut in den Spiegel. Das war die Person, zu der sie sich entwickeln würde, falls sie mal ein Admiral wurde wie 148
die Tante von Heris Serrano. Die Zurückhaltung, die
Unsicherheit, mit der sich Esmay so oft zum Spott gemacht hatte, war in der zurückliegenden Stunde weggebrannt worden.
Noch empfand sie nicht ganz das, was sie in diesem Gesicht erblickte, aber sie traute den Augen, die ihr entgegenloderten.
Ob er nach wie vor im Wintergarten wartete? Wie lange hatte das alles gedauert? Die Uhr bot eine Überraschung für sie; sie war erst seit einer halben örtlichen Stunde hier oben. Sie ging zum Wintergarten, und diesmal waren alle ihre Sinne
vollkommen wach. Es hätte genauso gut das erste Mal sein können, dass sie diese Treppe hinunterging … Sie spürte, wie die sechste Stufe von unten leicht nachgab, bemerkte einen losen Stift an der Geländerseite des Teppichs, entdeckte eine Kerbe im Geländer selbst.
Ihr Vater und Berthol beugten sich mit einem der Gärtner über ein Tablett mit Setzlingen. Die neue Klarheit, mit der Esmay sah, offenbarte ihr jedes Detail der Pflanzen, die eingekerbten Blütenblätter aus feurigem Orange und Son-nengelb, den Spitzenschnitt der Blätter. Die schwarzen Fingernägel des Gärtners, seine auf dem Pflanztisch ausgebreiteten Hände. Das Rot an den Halsseiten ihres Onkels. Weiße Linien im Gesicht ihres Vaters, dort, wo er im Sonnenlicht so lange mit zusammengekniffenen Augen um sich geblickt hatte, dass die Falten nicht hatten braun werden können. Einen losen Faden an Berthols Manschettenknopf.
Esmay scharrte mit dem Fuß über den Fliesenboden, weil sie es darauf ankommen ließ; ihr Vater blickte auf.
»Esmaya … Komm und sieh dir mal die neuen Hybriden an.
Ich denke, sie werden sich in den vorderen Vasen sehr gut 149
machen … Ich hoffe,
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