HelHeg-AxoRoa
nächste Mal rammst du mir einfach fett so eine Scheißikealampe in die Fresse?«
»Boah, scheiße, halt doch endlich deine Scheißfresse!«
»Hast du jetzt keine Angst, dass ich eine Gehirnblutung erleide?«
»Mifti, du bist kein Scheißsäugling mehr, Scheißgehirnblutungen haben nur Scheißsäuglinge!«
Sie steht hyperventilierend auf, um hyperventilierend durch den Flur zu torkeln. Kurz bevor sie sich in ihr Zimmer flüchten kann, klingelt zum ersten Mal in diesem Halbjahr unser Festnetzanschluss. Wir gucken uns an, verbündet und überfordert. Wir warten vollkommen aus dem Konzept geworfen, bis der Anrufbeantworter anspringt und das akustische Resultat des im Kehlkopf unseres Nachbarn Lars generierten Phonationsschalls ein Licht auf unsere Situation wirft, das unsere Situation lächerlich und unangebracht wirken lässt. Lars sagt: »Ja hallo, ist schon irgendjemand wach von euch? Mir ist total langweilig, deswegen wollte ich fragen, ob ich kurz runterkommen kann, und dann hole ich einfach meine Playstation ab, ich habe Mifti ja meine Playstation ausgeliehen vor drei Wochen. Tschüsi.« Annika nur so: »Spinnt der? Es ist acht Uhr morgens!«
Ich tusche mir vor dem Badezimmerspiegel die Wimpern, ziehe mir ein türkisfarbenes, angeblich durch irgendwas Subtiles (was auch immer subtil in diesem Zusammenhang bedeuten mag) überzeugendes Seidenkaftankleid an und sage: »Tschüs, Annika!« Annika sagt unbeteiligt: »Willst du in einem Halston-Dress zur Schule gehen, das tausendfünfhundert Dollar gekostet hat?«
Ich knalle die Wohnungstür hinter mir zu. Erschöpft setze ich mich auf unsere Fußmatte und führe mir vor Augen, wo die Probleme liegen:
1. Ich habe keine Lust, jetzt zur Schule zu gehen.
2. Ich habe beachtliche Kopfschmerzen.
3. Auf unserer Fußmatte steht: Yogamatte - und das geht halt irgendwie gar nicht.
4. Ich muss dringend einen Weg finden, wieder da in diese Scheißwohnung reinzugelangen.
Man neigt zum Erstellen unnötiger To-do-Listen, mit deren Unterstützung es die nächsten zwanzig Minuten vor der verschlossenen Wohnungstür sinnvoll zu gestalten gilt:
1 . Musik ist ausschließlich dazu da, um Gefühle zu konservieren. Karen Carpenter und Richard Carpenter.
2. Warum scheint die Sonne, warum singen die Vögel weiter, wissen die denn alle nicht, dass gerade die Welt untergeht.
3. Van Morrison, Gloria, fortwährende Hyperventilation und die Erinnerung an den von Edmond vor wenigen Wochen aus dem Gehege seiner Zähne entlassenen Satz: »Ich kann nur rennen, schnell und zwar weg und das immer. Patti Smith ist ein alter Junkie, was findest du nur immerzu an diesen alten Frauen? Alter macht niemanden besser. Wer altert, vergammelt.«
4. Anstatt in einem Zustand unwiderruflichen Kummers vor der Wohnungstür zu vergammeln, schließe ich die Wohnungstür einfach wieder auf.
Annika sitzt gemeinsam mit ihrer High-Definition-Mascara am Küchentisch und guckt mich an, als hätte sich meine Dünnhäutigkeit innerhalb kürzester Zeit zu einer nicht mehr nachvollziehbaren Skrupellosigkeit entwickelt. »Ich muss nicht mehr in die Schule, Annika.«
»Das ist jetzt das Ende.«
»Ja, das ist wirklich das Ende. Draußen sind alle ohnmächtig.« »Das glaube ich dir nicht.«
»Es ist total egal, ob du mir glaubst oder nicht. Draußen sind alle ohnmächtig.«
Sie guckt sich paranoid um.
»Atomkrieg?«
»Chemieangriff?«
»Mach das Fenster zu, Mifti.«
»Zu spät.«
Annika wird ohnmächtig, ich falle um. Jeder von uns denkt, er sei der alleinige Simulant. Das ist ungemein sexy.
Ja, da waren wir auch den Tränen ein bisschen nahe, und das muss ich auch ganz offen zugeben, auch wenn man bei mir das jetzt nicht oft gesehen hat, aber wenn es diese Momente gibt, in denen man den Tränen nahe ist, dann war das da schon einer davon, also da waren wir alle echt den Tränen nahe.
Um 8 Uhr 10 steht Lars gemeinsam mit seinem zweijährigen Scheißblag und einer unübertrefflichen Erwartungshaltung in unserem Wohnungsflur. Das zweijährige Scheißblag trägt einen weißen Häkelponcho aus Chile, wurde nie in seiner
Entscheidungsfreiheit eingeschränkt und hat deswegen innerhalb von zwanzig Sekunden zuerst eine komplette Packung Nordseekrabben aus unserem Kühlschrank geholt und den Inhalt derselbigen dann auch auf der Stelle aufgefressen.
Lars hat drei Jahre lang Graphikdesign in London studiert und ist Veganer.
Intimacy
Als Lars, unser Nachbar, Graphikdesign in London studiert hat, fotographierte er im
Weitere Kostenlose Bücher