Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
wächst ein Viertel der Kinder mit nur einem Elternteil auf, in Westdeutschland ist es etwa ein Sechstel. Bekamen Frauen im Jahr 1963 noch durchschnittlich 2,5 Kinder, so pendelte sich die Geburtenrate seit Mitte der siebziger Jahre bis heute zwischen 1,3 und 1,4 ein.
Die Gründe für gewollte Kinderlosigkeit sind ebenfalls bezeichnend. Ein Drittel der Kinderlosen hat keine Kinder, weil man möglichst viele Freiräume sowie genügend Zeit für sich und seine Hobbys haben möchte. Zwei Fünftel der kinderlosen Männer und Frauen haben keine Kinder, weil sie angeben, noch nicht die passende Partnerin bzw. den passenden Partner gefunden zu haben.
Daraus folgt: Je seltener Elternschaft geworden ist und je später sie im Leben der Eltern zustande kommt, desto mehr wird sie überhöht. Wenn man sich nämlich nach langem Hin und Her für ein Kind entschieden hat, dann soll es ein Prachtkind werden.
Norbert Elias meinte in seinem Essay «Zivilisierung der Eltern» (1980), nach der «Entdeckung der Kindheit» vor gut zweihundert Jahren brauche man dringend eine «Entdeckung der Eltern» – das gilt auch heute noch. Aus demographischen Gründen auf jeden Fall. Schließlich ist es nicht ganz ausgeschlossen, dass die typisch deutsche Angst, in der Erziehung etwas falsch zu machen, wie ein äußerst effektives Verhütungsmittel wirkt.
Die Eltern sind obendrein älter, wenn sie erstmals Eltern werden. Dass solche Eltern aus ihrer Lebenserfahrung heraus differenzierter und vorausschauender denken, dass sie mit zunehmendem Alter vorsichtig werden, dass sie an alle Lebensbereiche überlegter herangehen, dass sie in der Folge auch in der Erziehung weniger intuitiv und spontan handeln, spielt ebenfalls eine Rolle. Siehe das durchschnittliche Alter der Mütter bei der Geburt des ersten Kindes: In der alten Bundesrepublik lag dieses Alter im Jahr 1970 bei 24,3 Jahren, im Jahr 2010 in Deutschland West bei 30,2 Jahren, in Deutschland-Ost bei 29,9 Jahren. Ein Plus also an rund sechs Jahren. 1990 waren nur 5 Prozent der Erstgebärenden über 35 Jahre, im Jahre 2007 sind es 24 Prozent der Frauen in dem Alter, die zum ersten Mal Mutter werden. Folge: Die subjektive Bedeutung des Kindes nimmt enorm zu, wenn man lange darauf gewartet hat.
Und so hat ein Wunschkind für Vater und Mutter eine andere Bedeutung als früher, als man sich noch mit einem Kind «abzufinden» hatte. Getimte Wunschkinder sind nicht mehr das Ergebnis eines Liebeslebens. Seit der Pille kommen die Kinder nicht mehr in erster Linie als Naturereignis zur Welt, sondern als die ganz große Sache. Dies hat Auswirkungen: Sie werden umhegt und gepflegt. Die Planbarkeit von Kindern hat die Vorstellung suggeriert, man müsste das Planen zumindest drei Jahrzehnte lang fortsetzen.
«Für die Erziehung von Kindern braucht es ein ganzes Dorf», sagt ein vielzitiertes afrikanisches Sprichwort. Bezogen auf Europa ist damit gemeint: Kinder brauchen Erfahrungen, die sie nicht nur mit ihren Eltern, sondern mit Geschwistern, Gleichaltrigen, Großeltern, Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen als Koerziehern machen. Im Zuge der Entwicklung zur Ein-Kind-Familie wird dieses «Dorf» aber immer kleiner, weil es keine Geschwister, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen mehr gibt.
Die Medien und das Verschwinden der Kindheit
Geändert haben sich die Lebensumstände vor allem medial. Neil Postmans 1987 erschienener Bestseller «Das Verschwinden der Kindheit» warnte zu einer Zeit, als es noch kein Internet, kaum Computerspiele und nicht Hunderte von Fernsehkanälen gab, bereits vor einer schleichenden intellektuellen Rückentwicklung durch neue Medien und eine Aufhebung der Trennung von Kindheit und Erwachsenendasein durch das Fernsehen. Allein schon medial zeichnete sich somit eine Liquidierung des kindlichen Schonraums ab.
Gewiss sind Kinder durch das Fernsehen heutzutage viel besser und viel früher informiert. Wissen, das seit der Erfindung des Buchdrucks lesefähigen Erwachsenen exklusiv vorbehalten und damit Kindern verschlossen war, ist nun via Fernsehen bereits Kindern zugänglich. Auch dadurch verwischen die Grenzen zwischen Kindheit und Erwachsenensein; Kinder werden mittels medialen und materiellen Konsums zu Erwachsenen, ehe sie tatsächlich erwachsen sind. Zugleich verlangt die Gesellschaft, die die mediale Rundumversorgung will, in einem Bereich Erziehung, wo sie doch in weiten Bereichen jede Wirkung von Erziehung allein schon durch ihre TV-Programme zunichte macht.
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