Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
durch die ‹sensibilité physique› in Bewegung gesetzt wird, alles, was diese ins Werk setzt, tun muss».
Hundert Jahre später etabliert sich eine «objektive» Psychologie, die das Gedankengut der Determiniertheit bzw. der Programmierbarkeit des Menschen durch die so oder so gestalteten Umstände aufgreift. Sie trägt es bis zum heutigen Tag hinein in die Pädagogik. Um 1900 schließt sich Iwan Petrowitsch Pawlow (1849–1936) de la Mettries Überlegungen an. Pawlow entwickelt seine Reflexologie, für die er 1904 den Nobelpreis für Physiologie erhält. Im Kern besagt seine Theorie, die auf der Basis von Experimenten mit Hunden entwickelt wurde, dass nicht nur Reflexe, sondern auch bewusste Reaktionen «konditioniert» werden könnten. Alles tägliche Handeln eines Menschen lasse sich als konditioniertes Verhalten verstehen. Die lateinische Vokabel conditio heißt «Bedingung», und «konditionieren» bedeutet also: Bedingungen für ein gewünschtes Verhalten schaffen.
Die amerikanischen Behavioristen, allen voran John Watson (1878–1958) und Burrhus Skinner (1904–1990), folgen Pawlow. John Watson fasst diese Einstellung 1930 in dem prahlerischen Satz zusammen: «Gebt mir ein Dutzend gesunder Kinder, und ich verbürge mich dafür, dass ich irgendeines heraussuchen und es zu einem Arzt, einem Rechtsanwalt, einem Künstler, einem Kaufmann, einem Bettler oder einem Dieb machen kann – ohne Rücksicht auf seine Talente, Neigungen, Fähigkeiten, Anlagen, Rasse oder Vorfahren.» Wenn es nach Watson ginge, hätte er es also in der Hand, ob ein junges Leben vom Kinderstühlchen eines Tages auf den elektrischen Stuhl führt.
Spätere Lernpsychologen schlossen sich dem Optimismus Watsons an, Jerome Bruner beispielsweise schrieb: «Jedes Kind kann auf jeder Entwicklungsstufe jeder Lehrgegenstand in einer intellektuell ehrlichen Form erfolgreich gelehrt werden.» Wo solchermaßen an ein Neugeborenes als «tabula rasa» bzw. als «white paper», wo an die Allmacht der Erziehung und an eine unbegrenzte Plastizität eines jungen Menschen geglaubt wird, wird jede Schwierigkeit des Kindes mit fehlerhaftem Verhalten der Eltern, der Lehrer oder der Umwelt erklärt.
Eine ähnliche Anmaßung bestimmt den Inhalt von B. F. Skinners 1950 erschienenem Bestseller «Futurum Zwei» («Walden Two»), in dem das Reiz-Reaktions-Modell des Verhaltens von Kindern – und allen anderen Menschen – anhand von «angepassten» und «gesunden» Verhaltensrichtlinien vorgestellt wurde.
Anhand von Tierexperimenten – überwiegend mit Ratten, Tauben und Katzen – wollen Behavioristen darlegen, dass alles Verhalten und Erleben abhängige Variable der unabhängigen Variablen «Umwelt» sei. Die russischen Reflexologen und die amerikanischen Behavioristen führen damit – experimentell und statistisch angereichert – die mechanistische Sicht eines de la Mettrie fort. Das hat Auswirkungen auf die Pädagogik. Es hat die Geburtsstunde der Hybris des grenzenlosen pädagogischen Optimismus geschlagen, dem zufolge der Mensch von außen her determinierbar und als Lernprodukt grenzenlos programmierbar sei. Man glaubt, den Nativismus, die Annahme von der genetischen Determiniertheit psychischer und geistiger Dispositionen, niedergerungen zu haben. Und man erwartet, den Menschen wie ein Werkstück formen zu können. Ob Ratten, Affen oder Kinder – für die Behavioristen war das einerlei: «Comparable results have been obtained with pigeons, rats, monkeys, human children and […] human psychotic subjects.» Eine – ähnlich der Hirnforschung – wahrlich biologistische, materialistische, mechanistische, damit reduktionistische und triviale Annahme.
Mit Pawlows Nachweis der Manipulierbarkeit eines Versuchstiers sind Psychologie und Pädagogik im wahrsten Sinn des Wortes «auf den Hund gekommen». Die Vorstellung von einem Lernen als bedingtem Reflex, als Einschleifen von Nervenbahnen, als «materieller» Tatsache kommt aber dem Marxismus-Leninismus mit seinem Glauben an die Veränderlichkeit des Menschen und mit seinen Machbarkeitsutopien entgegen. Geistiges spielt dabei keine Rolle. Nach Watson (1914) ist der Mensch ein Reflexautomat: «Es ist möglich, eine Psychologie zu schreiben und niemals die Begriffe Bewusstsein, seelischer Zustand, Geist, Inhalt, Wille, Phantasie und dergleichen zu gebrauchen.» Skinner entwickelt daraus später Lehr- und Lernprogramme, die in den sechziger Jahren als «Programmierter Unterricht» – zunächst – eine
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