Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
kümmern. Eine väterliche «fast education» dagegen bringt nichts. Man kann nicht ausgerechnet beim sonntäglichen Mittagessen alle Erziehungsprobleme dieses unseres Landes und dieser «meiner» Familie lösen. Vielmehr müssen sich die Väter im wahrsten Sinne des Wortes im Alltag einbringen: als Leit- oder auch als Gegenbild für Söhne und Töchter, als Reflexionsspiegel für die Kinder, als komplementärer Erziehungspartner oder als Verstärker der Mutter, im Bedarfsfall als Anwalt der Kinder.
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Psychologie und Folgen der Helikopter-Pädagogik
Für die offensichtliche Zunahme von elterlicher Verwöhnung, Überbehütung und Verschonung sowie für die damit korrelierende Verlängerung der Jugendphase gibt es neben den bisher thematisierten wie den veränderten Lebenswelten einen weiteren maßgeblichen Grund: Die heutige Elterngeneration wurde in der eigenen Kindheit selbst bereits in großem Stil verwöhnt, überbehütet und verschont. Unter dieses Niveau, das man selbst in den Jahren von 1970 bis heute erfahren hat, will man bei den eigenen Kindern nicht zurückfallen, eher will man dieses Niveau noch toppen. Man will, dass es harmonisch zugeht in der Familie. Man will die Gewissheit haben, dass man alles – auch als Alleinerzieher – für den Rohling «Kind» tut. Man will Schuldgefühle verdrängen, die auftreten, weil man aus beruflichen Gründen zu wenig Zeit für das Kind hat. Man will die mangelnde emotionale Zuwendung mit Freizeitaktionismus oder wenigstens materiell ausgleichen. Man will nicht riskieren, dass einem das eigene Kind die Liebe entzieht.
Der Stoff, aus dem die Irrungen sind
Überrationalisierte Erziehungshaltungen und Erziehungspraktiken haben aber auch zu tun mit einer fortschreitenden Psychologisierung der Pädagogik, ja verschiedentlich sogar mit einer Klinifizierung der Kindheit. Gemeint sind damit nicht die Trivialisierungen von Erziehung und die Banalisierungen von Psychologie durch Allerweltspsychologien, sondern gemeint ist ein gewisser psychologischer Imperialismus, der die Pädagogik mehr und mehr besetzt hat.
Roland Reichenbach und Fritz Oser haben dazu 2002 einen interessanten Sammelband herausgebracht. Der Titel deutet bereits an, wo sie die Probleme sehen: «Die Psychologisierung der Pädagogik – Übel, Notwendigkeit oder Fehldiagnose». Als das Problematische sieht Roland Reichenbach folgende Tendenzen an: «die unmittelbaren Bedürfnisse des Kindes zum Leitkriterium pädagogischen Handelns und Denkens zu machen», «der Zeitperspektive der Gegenwart (des Kindes) gegenüber derjenigen der Zukunft (des Kindes) Primatstatus zuzuordnen» und «das Ideal der symmetrischen Kommunikation zum Gebot erzieherischer Kommunikation überhaupt zu stilisieren». Reichenbach spricht gar von einer prekären Sakralisierung des Selbst und davon, dass die «Kern-Psychologie immer eine Art Befreiungstheologie» sei. Individualisierung schrumpfe damit zusammen auf Anleitungen zur Selbstoptimierung für die Anpassung an nicht voraussehbare Marktbedingungen und an das neoliberale gesellschaftliche Wunschbild des «Entrepreneur seiner selbst» im Sinne eines bedingungslos und radikal sich selbst inszenierenden Marktteilnehmers.
Die Psychologie wird sich selbstkritisch prüfen müssen, inwieweit sie diese Denkmuster mit unterstützt oder gar erst provoziert hat. Die Betrachtung von Kindheit, Elternschaft, Erziehung und Bildung bedarf allerdings noch weitergehender Reflexionen. Die nachfolgenden Überlegungen sind als provokante Impulse zur Einleitung dieser Reflexionen zu verstehen: gesellschaftlich und unter Eltern.
Behavioristische Hybris des Plan- und Machbarkeitswahns
Mitte des 18. Jahrhunderts etabliert sich zunächst in Frankreich ein Materialismus, der Psychologie und Pädagogik mit seinen mechanistischen Vorstellungen vom Menschen bis zum heutigen Tag nicht mehr losgelassen hat. Maßgeblicher Vertreter dieser Richtung ist Julien de la Mettrie (1709–1751). De la Mettrie entwirft in seinem Hauptwerk «L’homme machine» (1748) die materialistische Sicht eines maschinenähnlichen Menschen, dessen psychische Vorgänge und geistige Verfassungen angeblich vollkommen von den Umständen abhängen. In dieselbe Richtung tendiert Claude Adrian Helvetius (1715–1771) mit seiner posthum erschienenen Schrift «Vom Menschen, von dessen geistigen Kräften und von der Erziehung derselben» (1772). Darin beschreibt er den Menschen als «eine Maschine, die, sobald sie
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