Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
aller Ironie: Unter vielen Eltern geht die Angst um, nicht genug für das Kind zu tun, ein Kind seelisch zu verletzen oder als Rabeneltern dazustehen. Nennen wir es Pädochondrie. Dabei ist allein das Bild von «Rabeneltern» völlig falsch, denn Rabeneltern sind sehr fürsorgliche Eltern. Offenbar ist die Angst, als Rabenmutter zu gelten, aber in Deutschland besonders ausgeprägt. In Frankreich geht eher die Sorge um, die Kinder würden zu sehr umsorgt. Dort gilt ein anderes Federvieh als Projektionsfläche für Vorstellungen von falscher Erziehung: die «mère poule» – die Mutterglucke.
Das durch alles Mögliche verletzbare Kind ist ein Mythos. Gewiss können gravierende Erlebnisse ein Kind an Leib und Seele beschädigen und für ein späteres Leben vorverurteilen. Wir dürfen aber die Widerstandsfähigkeit von Kindern nicht unterschätzen. Ursula Nuber hat dazu bereits 1995 ein wichtiges Buch geschrieben. «Der Mythos vom frühen Trauma – Über Macht und Einfluss der Kindheit». Darin verwahrt sie sich gegen die um sich greifende Therapeutisierung und Pathologisierung der Kindheit und gegen die Betrachtung junger Menschen als Individuen, die fortwährend der professionellen Hilfe und des ständigen Weiterreichens von einer Instanz zur nächsten bedürften.
Die Tiefenpsychologie mag ihre Verdienste im Bereich des Klinischen haben. Psychoanalytiker neigen aber dazu, die in ihrer Praxis mit Patienten gemachten Erfahrungen auf die Gesamtheit hochzurechnen. Begriffe wie orale Regression, anale Fixation, Verdrängung, Ödipuskomplex oder frühkindliches Trauma gehen heute selbst psychologischen Laien flüssig von den Lippen. Depressionen, Ängste, Neurodermitis, Magengeschwüre, Essstörungen – für all diese Krankheiten und noch viele mehr wurde angeblich nachgewiesen, dass sie ohne entsprechende frühkindliche Erfahrungen nicht entstanden wären.
Der gebürtige Wiener, Sigmund-Freud-Verehrer und Psychoanalytiker Kurt R. Eissler (1908–1999) formulierte bis zuletzt «ohne einen Hauch von Zweifel»: «Es ist die grundlegende Erkenntnis der psychoanalytischen Forschung, dass, eine durchschnittliche Konstitution vorausgesetzt, die Ereignisse der ersten fünf Lebensjahre darüber entscheiden, ob aus dem Kind später ein Verbrecher oder ein Heiliger wird, ein Durchschnittsbürger oder ein Spitzenkönner, ein gesunder, angepasster Mensch oder einer, den Neurose und Depression zerreißen.»
Im Bereich der Erziehung wird die Tiefenpsychologie aber maßlos überschätzt, ja gar instrumentalisiert von einer «Psychoindustrie», der es um Kommerz geht und die in irreführender Weise mit dem Slogan wirbt: «Die ersten Jahre dauern ein Leben lang.» Es gibt aber keinen Kindheitsdeterminismus. Wir sollten wissen, dass Kinder ziemlich robust sind, eine Menge aushalten und es gar nicht gern haben, wenn ihre Eltern sie nur noch sehr gezielt und geplant erziehen.
Kinder sind – wie schon betont – sehr viel widerstandsfähiger, als allgemein angenommen wird. Kinder entwickeln nach emotional schwierigen Erfahrungen häufig neue Stärken. Menschen sind in sehr viel geringerem Ausmaß die Opfer ihrer Kindheit, als jahrzehntelang suggeriert wurde. Menschen sind nicht dazu verurteilt, ihr Leben lang an den ihnen einst zugefügten Wunden zu leiden. Niemandem wünscht man es, aber Traumata können sogar einen konstruktiven, kreativen Wert haben – ausgenommen die meisten Fälle von Misshandlung und Missbrauch. Natürlich ist eine glückliche Kindheit ein riesiges Kapital, von dessen Zinsen man ein Leben lang zehren kann. Aber eine glückliche Kindheit ist keine Garantie für ein erfülltes Leben: Aus einer glücklichen Kindheit kann unter widrigen Umständen eine problematische Biographie erwachsen, so wie sich umgekehrt aus einer unglücklichen Kindheit ein erfülltes Leben entwickeln kann. Die menschliche Entwicklung ist sehr viel chancenreicher, als es uns Traumadeterministen glauben machen wollen.
«Wer als Kind geschlagen wurde, schlägt auch seine Kinder. Wer mit einem alkoholkranken Vater aufgewachsen ist, wird selbst süchtig. Wer eine depressive Mutter hatte, wird auch depressiv. Scheidungskinder führen später selbst problematische Ehen. Wer – umgekehrt – fürsorgliche, liebevolle Eltern hatte, wird zu einem ausgeglichenen, stabilen, erfolgreichen, liebenswürdigen Menschen.» Diese «Urteile» zeigen Monokausalitäten auf, die es so nicht gibt. Frühe Erfahrungen müssen nicht Schicksal sein. Beethoven ist
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