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Helix

Helix

Titel: Helix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Schnee war hier so schmal, dass wir einen Moment lang rittlings darauf sitzen konnten, als wollten wir die Beine über einen sehr, sehr steilen Dachfirst schwingen.
    Und was für ein Dach es war. Auf einer Seite fiel es Tausende von Fuß zum ehemaligen China hin ab. Unsere linken Beine – bei Kanakaredes waren es sogar drei – hingen zum ehemaligen Pakistan hinüber. Bergsteiger des zwanzigsten Jahrhunderts hatten an dieser Stelle wahrscheinlich Witze darüber gerissen, dass sie eigentlich einen Reisepass brauchten, dass aber die Grenzwächter, die ihn anschauen sollten, nicht da seien. In der jetzigen CMG-Ära konnte jederzeit ein Bomber des HK oder ein indisches Jagdflugzeug hier auftauchen, fünfzig Meter vor uns in der Luft schweben und uns vom Grat pusten. Doch wir machten uns deshalb keine Sorgen. Kanakaredes’ Gegenwart war die beste Lebensversicherung.
    Dies war der schwerste Teil der Besteigung, und unser Wanzenfreund hatte Mühe mitzuhalten. Gary, Paul und ich hatten am Abend zuvor darüber gesprochen und uns flüsternd unterhalten, während K schon schlief. Wir hatten beschlossen, dass dieser Abschnitt zu steil war, um alle gemeinsam angeseilt zu bleiben. Wir wollten in zwei Paaren hinüber. Paul war am besten geeignet, sich mit K zusammenzutun, auch wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit beide abstürzen würden, sobald einer von ihnen den Halt verlor. Das Gleiche galt natürlich auch für Gary und mich, als wir die Vorhut bildeten. Dennoch war es eine kleine Lebensversicherung.
    Das Sonnenlicht wanderte den Abhang hinunter und wärmte uns, als wir von einer Seite des Grats zur anderen wechselten und dem besten Weg folgten. Wir mieden dabei die Abschnitte, die so steil waren, dass der Schnee nicht hielt, was nicht nur an der extremen Steigung lag, sondern auch daran, dass der Felsuntergrund dort fast immer verwittert und brüchig war. Wir hofften, ein ordentliches Stück zu schaffen, bevor die wärmende Sonne den Schnee so sehr lockerte, dass unsere Steigeisen nutzlos wurden.
    Ich mochte die endlos lange Liste der Geräte, die wir benutzten: Klemmkeile, Eishaken, Himmelshaken, Eisschrauben, Karabinerhaken, Jumars. Ich mochte die Präzision, mit der wir uns bewegten, auch wenn wir, wie es schon bei der kleinsten Anstrengung in einer Höhe von fast 8000 Metern unvermeidlich ist, mühsam atmeten und ein getrübtes Bewusstsein hatten. Gary ging voraus und hackte Trittlöcher in die Wand aus Eis und Schnee, aus der hier und dort ein Felsvorsprung ragte. Er bewegte immer nur einen mit Steigeisen bewehrten Fuß, während er sich an drei Punkten sicherte, dann löste er den Eispickel und hackte ihn ein paar Fuß weiter wieder in die Wand. Ich stand auf einer winzigen Plattform, die ich aus dem Schnee gehackt hatte, und sicherte Gary, bis die zweihundert Fuß lange Leine ausgegeben war. Dann verankerte er sein Ende des Seils mit einem Klemmkeil, Eishaken, Himmelshaken oder einer Eisschraube, machte für mich die Sicherung, und ich konnte mich in Bewegung setzen und die Spitzen der Steigeisen in die Schneemauer treiben, die sich fünfzig oder sechzig Fuß hoch über mir senkrecht in den Himmel erhob.
    Ungefähr hundert Yards hinter uns arbeiteten sich Paul und Kanakaredes auf die gleiche Weise vor. Paul hatte die Führung übernommen, und K sicherte ihn, dann kletterte K, und Paul sicherte ihn und ruhte aus, bis die Wanze ihn eingeholt hatte.
    Wir hätten uns auf unterschiedlichen Planeten befinden können. Es gab keine Gespräche. Wir brauchten jedes Quäntchen Kraft, um keuchend den nächsten Schritt zu machen, um uns darauf zu konzentrieren, die Füße und die Eispickel genau an die richtige Stelle zu schlagen.
    Ein Bergsteigerteam aus dem zwanzigsten Jahrhundert hätte Tage gebraucht, um diese Traverse zu meistern. Man hätte Fixseile gesetzt und sich zum Essen und Schlafen ins Camp Drei zurückgezogen, und am folgenden Tag hätten andere Teams den nächsten Abschnitt vorbereitet und weitere Fixseile gelegt. Wir genossen keinen derartigen Luxus. Wir mussten diesen Übergang in einem einzigen Versuch schaffen und auf dem Grat vorstoßen, solange das gute Wetter hielt, denn sonst wären wir im Eimer.
    So gefiel mir das.
    Ungefähr fünf Stunden, nachdem wir die Traverse in Angriff genommen hatten, sah ich ringsum Schmetterlinge fliegen. Ich blickte zu Gary, der zweihundert Fuß vor und über mir sicherte. Auch er beobachtete die Schmetterlinge – kleine farbige Flecken, die dreiundzwanzigtausend Fuß über dem

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