Helix
verstanden. So hat beispielsweise niemand auf den Titel geachtet: »Der neunte Av« oder Tisha B’Av im jüdischen Kalender.
Titel sind wichtig. Manchmal, wie in diesem Fall, tragen sie beinahe so viel Bedeutung wie der Text selbst. Ich denke da an Storys wie Hemingways »Berge wie weiße Elefanten« und frage mich, warum Titel heutzutage so häufig vernachlässigt und ignoriert werden. Als die französische Ausgabe von »Destination 3001« mit dieser Story im Herbst 2000 schließlich erscheinen sollte, erfuhr ich, dass mein guter Freund (und Herausgeber) Jacques Chambon und mein guter Freund (und Übersetzer) Jean-Daniel Breque den Titel der Story zu »Le Dernier Fax« (»Das letzte Fax«) geändert hatten. Ich ging in die Luft und drohte damit – es war gewiss keine leere Drohung –, lieber die Geschichte ganz zurückzuziehen, als auf den Originaltitel zu verzichten. Ich konnte ja verstehen, dass der Titel im Französischen »nichts bedeutete«, und, noch schlimmer, dass er nach »Der neunte April« klang, weil das französische Wort für April »Avril« ist und gewöhnlich mit »Av« abgekürzt wird. Ich konnte verstehen, dass mein Freund, der Herausgeber, und mein Freund, der Übersetzer, die jüdischen Feiertage nicht kannten und die Bedeutung des neunten Av nicht verstanden.
Trotzdem! Den Titel in »Das letzte Fax« zu ändern, kastrierte die ganze Geschichte. Ich würde lieber meine Heimatstadt einäschern, die Trümmer zermalmen, alles umpflügen und die Erde salzen, damit dort nie wieder etwas wächst, ab mich in einer so wichtigen Sache dieser Art von wohlmeinendem Vandalismus zu unterwerfen. (Ich muss allerdings gestehen, dass das eine häufige Reaktion von mir auf zahlreiche redaktionelle »Verbesserungen« ist.)
Jacques und Jean-Daniel nahmen die Titeländerung zurück.
Titel sind wichtig.
Die Teilnehmer des Workshops waren kluge Leute, erfolgreich in ihren jeweiligen Berufen und aufrichtig in ihrem Wunsch, ordentlich zu lesen und schließlich auch ordentlich zu schreiben. Aber sie haben das Wichtigste übersehen. Ob es nun meine Schuld war oder ihre (ihre!), sie haben es übersehen.
Itbah al-Yahud!
Eigentlich bin ich ja dankbar für jeden Anlass, eine Party zu feiern, doch in den letzten Jahren, Monaten und Stunden der Neunzigerjahre war ich skeptisch, und das lag nicht nur daran, dass ich einer dieser pedantischen Puristen bin, die darauf beharrten, dass das neue Jahrtausend am ersten Januar 2001 beginne. (Das Thema ist jetzt ohnehin erledigt, und irgendwie verstehe ich ja auch die eigenartige Attraktivität eines Tachos, der nur Nullen anzeigt – ich erinnere mich, dass meine Eltern mit unserem 1948er Buick um den Block gefahren sind, bis die Zahlen umsprangen und alles wieder auf null stand.)
In dem Film Sunshine – Ein Hauch von Sonnenschein spielt Ralph Fiennes drei Generationen von Männern in einer jüdisch-ungarischen Oberschichtfamilie in Budapest. Irgendwann feiert die Familie den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, aber der Film verschweigt, ob es Silvester 1899 oder 1900 ist. (Wahrscheinlich 1900, denn damals verstand man noch etwas von so einfachen Dingen wie Kalendern.) Also küssen sie einander und stoßen an »auf das kommende Jahrhundert des Mitgefühls, der Gerechtigkeit und des menschlichen Fortschritts« …
Es ist ein beeindruckender, trauriger Moment. Als Zuschauer würden wir am liebsten in die Szene stürzen und sie warnen, dass das Europa des zwanzigsten Jahrhunderts voller Unterdrückung, Chaos, Ungerechtigkeit und Mord sein wird und dass sie als Juden mehr leiden werden als alle anderen. Aber diese Leute waren die Kinder der zweiten Hälfte ihres eigenen Jahrhunderts, und wenn es auch keine echte soziale Gerechtigkeit gab, so existierte doch wenigstens eine Art gesellschaftlicher Vernunft, die es sogar Juden erlaubte, zu Wohlstand und Ansehen zu kommen und vor dem Gesetz wie alle anderen behandelt zu werden. Jahrzehntelang herrschte Frieden in Europa, und die Vorstellung, es könne Krieg geben, verblasste nach und nach. (Für uns im unruhigen Fahrwasser des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist es schwer, sich vorzustellen, dass es ganze Jahrzehnte gegeben hat, in denen Frieden herrschte.)
Man möchte in die Szene stürmen und rufen: »Die Nazis! Auschwitz! Weltkriege, so häufig, dass sie nummeriert werden müssen wie die Fortsetzungen von Filmen! Todeslager! Kommunismus! Gulags! Hiroshima! Pogrome und Pestilenz, Bomben und Hungertod und Völkermord
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