Hellas Channel
Bücherregal betrachtet, wird er sich wundern. Denn nur das oberste Brett beeindruckt durch die Sammlung der Wörterbücher. Schweift der Blick über die drei weiteren Regalböden, drängeln sich dort Schundromane und Billigdrucke. Ich habe sozusagen das Dachgeschoß für mich reserviert und die drei unteren Etagen Adriani überlassen. Oben zusammengestoppeltes Wissen, unten erniedrigender Verfall. Als wollte man ganz Griechenland auf vier Brettern darstellen.
Ich nehme das Dimitrakos-Lexikon in den Arm und lege mich ins Bett. Ich öffne es unter dem Eintrag sehen.
Sehen = mit dem Gesichtssinn optische Eindrücke wahrnehmen.
»Der menschliche Geist sieht und hört alles«, sagte mein Vater immer. Jeden Abend, eine halbe Stunde vor seiner Heimkehr, legte ich die aufgeschlagenen Schulbücher auf den Küchentisch und stürzte mich in die Hausaufgaben. Um ihm zu zeigen, daß ich mit Feuereifer dabei war. Er blieb in der Uniform des Polizeimeisters an der Türschwelle stehen und sah mich an. Ich gab keinen Mucks von mir. Ich war so in das Studium versunken, daß keinerlei Störung meine Wahrnehmung erreichte. Mit einem Mal trat er auf mich zu, packte mein Ohr und zog mich langsam vom Stuhl hoch.
»Schon wieder ein ›ungenügend‹ im Rechnen, du Armleuchter«, sagte er.
Ich hatte die Note noch gar nicht erfahren, denn die Arbeit sollte erst am nächsten Tag zurückgegeben werden. Er wußte immer schon am Vortag Bescheid.
»Woher weißt du das?« fragte ich verwundert.
»Der menschliche Geist sieht und hört alles«, war seine Antwort.
Bis ich eines Tages zufällig in seinem Büro bei der Gendarmerie war und begriff, daß es nicht der menschliche Geist war, der alles sah und hörte. Es war das Telefon, das klingelte. Mein Vater hatte dem Rechenlehrer eine kleine Gefälligkeit unter Freunden erwiesen, ihm einen Jagdschein verschafft oder etwas Ähnliches. Und der Rechenlehrer rief ihn jedesmal sofort an, sobald er meine Arbeit in Händen hielt, um sich für sein Entgegenkommen zu revanchieren. Das Seltsame ist, daß ich, immer wenn ich mir eines guten Ergebnisses sicher war, nur ein knappes ›mangelhaft‹ oder gar ein ›ungenügend‹ einheimste. Im Jahreszeugnis dagegen benotete er mich stets mit ›gut‹, damit sich mein Vater freute, daß die Gefälligkeit nicht umsonst gewesen war.
»Liegst du schon wieder mit den Schuhen auf dem Bett?« höre ich Adriani kreischen und schnelle in die Höhe. Aus, Schluß mit dem Tagtraum. Was entspricht der Dauer eines Traums? Die Länge einer Fernsehserie. Ende der Fernsehserie, Ende des Traums.
»Sobald du nach Hause kommst, stürzt du dich auf dieses blöde Buch, statt dich mit mir zu unterhalten. Wo ich doch den ganzen Tag einsam herumsitze. Und wenn du dann endlich da bist, verdreckst du mir das Bett mit deinen Mistschuhen.«
»Wie soll ich mich denn mit dir unterhalten, wenn du nicht vom Fernseher hochsiehst und mir kaum guten Abend wünschst?«
»Das war gerade die spannendste Stelle. Warum kannst du nicht mal fünf Minuten warten? Warum mußt du immer schnurstracks zu deinen Haarspaltereien laufen?« ›Haarspaltereien‹ nennt sie den Inhalt der Wörterbücher. »Hast du immer noch nicht genug davon? Zwanzig Jahre lang liest du immer wieder dieselben Wörter! Ich an deiner Stelle könnte sie schon im Schlaf aufsagen!«
»Dumme Gans, du meinst, ich soll mir den idiotischen Bullen anschauen, den ich, wenn er in meiner Truppe wäre, längst zum Patronenzählen abkommandiert hätte? Oder die zweite Halbzeit mit dieser Zimtzicke abwarten, die so tut, als wäre sie Staatsanwältin und sich sechshundert Folgen lang nicht dazu durchringen kann, mit ihrem Mann ins Bett zu gehen?«
»Ach du«, sagt sie herablassend, »du bist so beschränkt, daß du eben mit dem Glamour der Filmwelt nichts anfangen kannst.«
Sie dreht sich um und rauscht hinaus wie eine Diva. Sie hat es geschafft, mir einen Stachel ins Fleisch zu setzen. Denn ich weiß nicht genau, was Glamour bedeutet. Und außerdem weiß ich auch nicht, woher sie das Wort kennt, mit dem sie sich wichtig macht.
Ich gehe zum Bücherregal und ziehe das Oxford English-Greek Learner’s Dictionary heraus, das einzige Englischwörterbuch in meinem Besitz. Ich hatte es mir im Jahr ’77 zugelegt, als ich bei der Suchtgiftfahndung war und man uns Ausländer zum Verhör brachte, die in Indien gewesen waren. Angeblich auf der Suche nach einem Guru. Doch sie kehrten mit jeder Menge gelblichem Tabak, Halsketten mit enormen
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