Hell's Angels (German Edition)
Kanonenkugel auf die Steigung zu. Der Schwung trug uns über den Hügel, aber auf der anderen Seite wurde beim Aufprall der rechte Kotflügel so eingedrückt, dass er am Rad schleifte. Der Wagen schlingerte den Feldweg hinab,
bis er schließlich komplett blockierte, und dabei um ein Haar in ein Dutzend Motorräder gekracht wäre, die zu dem Laden unterwegs waren. Es kostete uns mit dem Wagenheber einige Mühe, bis der Wagen sich wieder bewegte, und als wir den Vorderreifen gerade gelöst hatten, kam ein lila Truck über die Hügelkuppe gerollt und knallte mir hinten rein. Aber kurz darauf nahm der Rhythmus dieses Wochenendes allmählich Gestalt an – eine große Bierlieferung, aufgerissene Bierdosen, gieriges Gelächter und aufgeregtes Gemurmel, als Sonny schließlich erzählte, was sich vor Williams’ Laden abgespielt hatte.
Wir waren gut zwei Stunden lang weg gewesen, und in der Zwischenzeit war es dank der Ankunft etlicher Wagenladungen mit Mädels und Bier friedlich geblieben. Um sechs Uhr standen Autos und Motorräder rund um die ganze Lichtung. Mein Wagen stand in der Mitte und diente als Gemeinschaftskühlkiste.
In Bargers Abwesenheit hatten die anderen Chapter-Präsidenten dafür gesorgt, dass Holz für ein großes Feuer gesammelt wurde. Diese Aufgabe fiel den Neumitgliedern der einzelnen Chapter zu, eine Tradition, die niemand in Frage stellte. Schließlich sind, wie Tiny sagte, die Hell’s Angels genau wie jede andere Bruderschaft auch, und wie andere Bruderschaften haben sie einen ausgeprägten Sinn für Rituale, Hierarchien und Ordnung. Gleichwohl halten sie sich eine gewisse Einzigartigkeit zugute, eine unverwechselbare Lebenseinstellung, die sie von Verbindungen wie den Elks und Phi Delts unterscheidet. Wie nicht weiter verwunderlich, haben andere Bruderschaften ein Problem mit den Angels und halten deren Rituale für exzentrisch oder kriminell – zu den umstrittensten zählen dabei sicher die Vergewaltigung, der tätliche Angriff und der Körpergeruch. Eine weitere
gute alte Tradition, die auf die Öffentlichkeit nicht ganz so abstoßend wirkt, ist die Verachtung der Outlaws gegenüber häuslichen Telefonanschlüssen sowie festen Postanschriften. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, haben sie diesen Aspekt des Lebens an diverse Ehefrauen, »Mamas«, Freundinnen und befreundete Prostituierte delegiert, deren Bude rund um die Uhr jedem offen steht, der das Colour trägt.
Die Outlaws fühlen sich sehr wohl mit ihrer Unerreichbarkeit. Das erspart ihnen eine Menge Ärger mit Geldeintreibern, Rachedurstigen und Polizisten, die sie routinemäßig schikanieren wollen. Sie sind so von der Gesellschaft bestens abgeschirmt, finden einander aber mit Leichtigkeit. Wenn Sonny runter nach Los Angeles fliegt, holt Otto ihn am Flughafen ab. Wenn Terry nach Fresno fährt, macht er sofort Ray, den Präsidenten des dortigen Chapters, ausfindig – der in einer Art geheimnisvollem Niemandsland lebt und nur durch eine Geheimnummer, die er ständig ändert, erreichbar ist. Die Oakland-Angels nutzen gerne Bargers Nummer und erkundigen sich ab und zu, ob Nachrichten für sie eingegangen sind. Einige nutzen dazu auch diverse Lokale, in denen man sie gut kennt. Wenn ein Angel mit jemandem sprechen will, verabredet er entweder ein Treffen irgendwo oder lässt ausrichten, dass er zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Telefonapparat erreichbar sein wird.
Eines Abends wollte ich einen jungen Angel namens Rodger kontaktieren, der früher mal Diskjockey gewesen war. Es erwies sich als unmöglich. Er konnte mir nie sagen, wo er sich am jeweils nächsten Tag aufhalten würde. »Man nennt mich ja nicht umsonst Rodger the Lodger«, sagte er. »Ich penne einfach, wo es geht. Ist mir ganz egal.
Wenn du anfängst, dir um so was Sorgen zu machen, kriegst du ’n Haschmich – und das ist dann das Ende, Mann, dann bist du erledigt.« Er benutzte keine Visitenkarten, wollte nicht einmal eine auf Papier gedruckte Illusion weltlicher Beständigkeit. Wenn er in dieser Nacht umgekommen wäre, hätte er keine Spuren im Leben hinterlassen und kein persönliches Eigentum, von seinem Motorrad mal abgesehen, das die anderen schnell untereinander verlost hätten. Hell’s Angels halten es nicht für nötig, ein Testament zu hinterlassen, und wenn sie sterben, fällt nicht viel Schreibarbeit an. Ein Führerschein läuft irgendwann ab, eine Polizeiakte wandert ins Archiv, ein Motorrad wechselt den Besitzer, und man zieht ein paar
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